Wikipedia: Zitieren verboten

Mit der Verfügung „Don’t cite Wikipedia“ machte vor einigen Monaten eine amerikanische Universität von sich reden. Dass das populäre Nachschlagewerk auch unter hiesigen Wissenschaftern zu diskutieren gibt, zeigt eine Tagung, die kürzlich an der Universität Basel stattgefunden hat.


Die verschiedenen Nachschlagewerke von Wikipedia gehören heute zu den am meisten aufgerufenen Internetseiten und sind auch Wissenschaftern beliebt. Unter dem Titel „Wikipedia in den Wissenschaften“ organisierte der Basler Historiker Peter Haber in Zusammenarbeit Institut für Medienwissenschaft der Universität Basel zu einer Tagung, die gleichzeitig Auftakt eines medienpraktischen Kurses bildet, bei dem Studentinnen und Studenten während eines Semester selber Artikel verfassen und die Weiterentwicklung der von ihnen angefangenen Artikels beobachten.
Maren Lorenz, Historikerin aus Hamburg, wurde ihrem Anspruch kein gutes Haar am Projekt Wikipedia zu lassen, gerecht, auch wenn sie selber einräumte, von diesem Projekt fasziniert zu sein. Wikipedia ist für sie nicht zitierbar, da eine Informationsseite schon beim nächsten Mausklick verändert sein kann. Ihre wichtigste Kritik: Es gibt bei Wikipedia keine einheitlichen Qualitätskriterien. Standards einzuhalten ist auch aus quantitativen Gründen bei über 500 neuen Einträgen pro Tag in der deutschen Ausgabe nicht möglich. Damit ist Wikipedia nur ein Beitrag zur Reizüberflutung. Die Historikerin hat nach einigen Versuchen, selber Einträge zu verfassen, das Feld geräumt: Bei Meinungsverschiedenheiten, auch Edit-Wars genannt, gewinnt jener, der den längeren Atem hat. Aus historischer Sicht, so die Referentin, dominiert eine sehr traditionelle, männliche Geschichtsauffassung, die politische und militärische Prozesse ins Zentrum rückt.
Auch der Schweizer Historiker und Didaktiker Jan Hodel, hält Wikipedia Artikel für nicht zitierbar findet Verbote, wie sie das amerikanische Middlesbury College in Vermont kürzlich ausgesprochen hat, aber wissenschaftlich fragwürdig, didaktisch unsinnig und kaum durchsetzbar. Problematisch ist für ihn Wikipedia als Historiker auch aus grundsätzlichen Überlegungen: Fakten werden zu Fetischen, nach Zusammenhängen und Prozessen wird nicht gefragt. Dennoch plädiert Hodel für einen unverkrampften Umgang mit Wikipedia: Viele Dozenten schimpfen über Wikipedia, dabei benutzen sie das Online-Nachschlagewerk selber. Was Not tut, ist ein kritischer Umgang. Gerade hier spielen die Dozenten eine wichtige Rolle und sollten ihre Erfahrungen im Umgang mit Quellen weitergeben. Hodel erachtet es als sinnvoll, Wikipedia-Artikel kritisch zu lesen und auch selber Artikel zu verfassen, um so im Sinn einer handlungsorientierten Medienpädagogik Einsicht in die Produktions- und Konstruktionsprozesse von Wikipedia-Wissen zu erhalten.
Besonders aufschlussreich ist der Vergleich von Wikipedia mit einem traditionellen Nachschlagewerk: Andreas Ineichen und Susanne Schär Pfister vom Historischen Lexikon der Schweiz zeigten den langen Weg eines Lexikoneintrags auf. Wird bei Wikipedia jeder Artikel und jede Änderung augenblicklich online publiziert, so durchläuft ein Eintrag im Historischen Lexikon der Schweiz von einem der rund 2500 Vertrags-Autoren verfasst zehn Instanzen bis zu seiner Publikation. Weil Korrekturen und Aktualisierung Arbeit bedeuten und damit Zeit und Geld kosten, müssen sie anders als bei Wikipedia priorisiert werden. Konkret: Nicht alle können umgesetzt werden. Das Historische Lexikon der Schweiz ist damit in den Augen der beiden Referenten ein langsames Medium, was aber nicht unbedingt ein Nachteil sein muss. Wie aktuell es trotzdem ist zeigen die Einträge in der Online-Ausgabe, die Artikel mit Bezug zum Zeitgeschehen vorstellen. Hier sind zur Zeit Hinweise auf die Artikel Migrationspolitik, Sport, Bundesratswahl und Bildungsverfassung aufgelistet. Die Lexikon-Redaktoren wiesen darauf hin, dass der Druck auf die Redaktion durch Wikipedia gestiegen ist. Zwar kennt das Historische Lexikon durch den mehrstufigen Weg ein System der Qualitätssicherung, aber man darf da nicht zu streng sein, denn für viele Themen findet man heute fast keine Autoren mehr. Und weiter räumten sie ein: Jedes Lexikon betreibt die gelegentlich kritisierte Entwurzelung des Wissens und verhindert die Einsicht in den Konstruktcharakter unseres Wissens. Der Vorwurf, in Wikipedia sei vor allem zusammenhangloses Quizwissen zu finden, trifft auf das Historische Lexikon der Schweiz damit ebenso zu, wie auf andere, ähnliche Nachschlagewerke.
Die abschliessende Diskussion zeigte einmal mehr die Notwendigkeit der vertieften Auseinandersetzung mit Wikipedia: Wenn es stimmt, dass heute ganze Zeitungsredaktionen ihr Hintergrundwissen von Wikipedia beziehen, dann ist das tatsächlich problematisch. Geschichtliches Wissen auch dies eine Aussage aus der Diskussion ? droht verloren zu gehen, im Zug eines Phänomens das der Leiter des Instituts für Medienwissenschaft, Georg Christoph Tholen, bildhaft als gespreizte Gegenwart bezeichnete.
Das Phänomen Wikipedia steht für eine weitere aktuelle Tendenz des Internets: Qualitativ hochstehendes Wissen, etwa aus internationalen Fachzeitschriften und wissenschaftlichen Quellen in allen Wissenschaftsbereichen ist fast nur für Geld zu haben. Tatsächlich geben auch Schweizer Hochschulen und Forschungsinstitution Millionen aus, um Studierenden und Dozenten Zugang zu diesen wissenschaftlichen Quellen zu geben. Daraus nun gleich einen neuen digitalen Graben zu konstruieren, wäre falsch: Alle diese Online-Quellen sind heute für jeden zugänglich, nur muss er oder sie sich dazu in eine wissenschaftliche Bibliothek bemühen. Gesichertes Wissen ist allerdings letztlich auch hier nicht zu finden, denn dies existiert schlicht nicht. Vielleicht, so könnte man philosophisch folgern, ist Wikipedia nichts Anderes, als ein Spiegel unserer Wissensgesellschaft: Was heute gilt, ist morgen falsch und das Morgen liegt nur einen Mausklick von heute entfernt?
Tagung vom 20. April, 2007, Universität Basel, Historisches Seminar und Institut für Medienwissenschaft, Leitung Prof. Dr. Christoph Tholen, Dr. Peter Haber
Kurzversion publiziert in der NZZ vom Freitag 27.April 2007
Druckversion mit zusätzlicher Tabelle: Wikipedia und HLS im Vergleich

www.wikipedia.ch
www.hist.net
Wissenschaftliche Datenbanken ? zugänglich via öffentliche Bibliotheken von Universitäten, ETH und Fachhochschulen:
ETH: www.ethbib.ethz.ch/bibliothek.html
Universitäten: http://lib.consortium.ch
Fachhochschulen: www.kfh.ch Siehe dort unter „Datenbanken“

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