Als Alexander Solschenizyn 1974 ausgebürgert wurde, kam er in die Schweiz. Auf der Flucht vor dem KGB versteckte er sich einige Monate in Sternenberg im Tösstal. Dort erinnert man sich noch an ihn.
Als der russische Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn am 15.Februar 1974 am Zürcher Hauptbahnhof eintraf, erwartete ihn eine begeisterte Menschenmenge. Solschenizyn war ein Superstar, seine Bücher Bestseller. Sein Aufenthalt in der Schweiz gehört zu den bizarrsten Episoden des Kalten Krieges und wurde auch vom gefürchteten russischen Geheimdienst KGB aufmerksam verfolgt.
Wer war dieser Mann? – Alexander Issajewitsch Solschenizyn, wie er mit vollem Namen hiess, war in jener Zeit der bekannteste russische Schriftsteller der Gegenwart. Wegen seiner systemkritischen Haltung war er nach dem Zweiten Weltkrieg jahrelang in Straflagern. Von diesen Erfahrungen schrieb er immer wieder in seinen Büchern, so 1962 im Buch «Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch», oder später in den Werken «Der erste Kreis der Hölle» oder «Krebsstation». 1970 erhielt er den Literaturnobelpreis und war damit vor weiterer Verfolgung halbwegs sicher. Als sein Hauptwerk gilt der dreibändige Zyklus ‘Der Archipel Gulag’. Das Buch ist eine Anklage gegen das unmenschliche System von Straf- und Umerziehungslager, das in Russland in der Stalinzeit aufgebaut wurde.
Nach der Veröffentlichung des Buches im Westen wurde Solschenizyn am 12.Februar 1974 verhaftet und anderntags nach Deutschland ausgewiesen, nach einem zweitägigen Besuch bei Heinrich Böll in der Eifel traf er am 15.Februar 1974 in Zürich ein. Warum gerade Zürich? Hier lebte sein Anwalt Fritz Heeb, der sich um die Rechte an seinen Büchern kümmerte. Dann wollte Solschenizyn für den Romanzyklus ‘Das rote Rad’ über das Leben von Lenin recherchieren.
Neben seinem Anwalt spielte auch der Zürcher Stadtpräsident Sigmund Widmer eine zentrale Rolle und half dem berühmten Schriftseller: «Unsere ganze Familie war involviert», erinnert sich Tochter Franziska Widmer, die damals 23 Jahre alt war: «Meine Mutter kümmerte sich um die Frau und Schwiegermutter des Schriftstellers, mein Vater besorgte die behördlichen Dinge und meine Aufgabe bestand mehrheitlich darin, dem ältesten Sohn Dmitri ‘Mitja’ Deutschunterricht zu erteilen». Die Familie von Solschenizyn traf wenige Wochen nach ihm in Zürich ein.
So ruhig wie er es erwartet hatte, war es in Zürich aber nicht: Seine Wohnung an der Stapferstrasse, die er durch Vermittlung des damaligen Stadtpräsidenten erhalten hatte, wurde fast Tag und Nacht von Schaulustigen belagert. Seine Anwesenheit war während Wochen Thema Nummer eins und auch Thema im benachbarten Schulhaus: Schüler von dort hängten damals Transparente im Garten auf und baten um «Ruhe für Solschenizyn!» Der Schriftsteller wollte unter diesen Umständen nicht in der Stadt bleiben. Sigmund Widmer stellte ihm deshalb das Ferienhaus seiner Familie in Sternenberg zur Verfügung.
Auch der Tösstaler Erwin Fässler erinnert sich an den berühmten russischen Schriftsteller: Er war damals 14 Jahre alt und wohnte in Schindlet bei Sternenberg, das etwa einen Kilometer vom Haus von Solschenizyn entfernt war: «Ich bin als Kind oft an seinem Haus vorbei spaziert, wusste damals aber nichts von diesem berühmten Gast.» Das Interesse daran kam später, als Erwin Fässler vor einigen Jahren begann, massgeschneiderte Touren im Zürcher Oberland für Touristen zu entwickeln.
Erwin Fässler führt den Journalisten zum Haus, wo Solschenizyn damals lebte: ein bescheidenes Bauernhaus in einem Weiler bei Sternenberg. Nichts erinnert heute an den berühmten Gast, der vor bald fünfzig Jahren hier einen Sommer verbrachte. Die Fenster habe der Gast damals mit Zeitungen zugeklebt, er wollte seine Ruhe haben. Viel Kontakt mit den Dorfbewohnern hatte er nicht. Aber die Nachbarn kannten ihn. Darunter ist Heidi Iseli: Die heute 82jährige Frau erinnert sich gut an den Schriftsteller: «Er holte jeden Tag auf unserem Hof frische Milch und oft trank er die Hälfte davon schon unterwegs, wo er auf einem Bänkli unter einer Linde ausruhte.»
Im Garten pflanzte er Dill und «russisches Gemüse», das wir bei uns nicht kannten, erzählt Heidi Iseli. Bei schönem Wetter habe er oft unter einem Kirschbaum gesessen und geschrieben. Solschenizyn führte ein sehr einfaches und zurückgezogenes Leben, die Hügel des Tösstals sollen ihn an seine russische Heimat erinnert haben. Auch gegessen habe er sehr einfach, vor allem Brot, Käse und Eier. In der Küche, so erinnert sich Franziska Widmer, stapelten sich die leeren Eier-Kartons: «Er hat sehr viele rohe Eier gegessen. Jahre zuvor hatte er ja Magenkrebs gehabt, und die Eier hat sein empfindlicher Magen offenbar besonders gut vertragen».
Einige Monate hat der berühmte Schriftsteller in Sternenberg gelebt. Danach ist zog er wieder in die Stadt zurück, wo sich der Rummel mittlerweile gelegt hatte. Für seine Recherchen zum Zürcher Aufenthalt von Lenin musste er oft in die Zentralbibliothek in Zürich. Zwei Jahre später ist er weitergezogen. Im Ort Cavendish im US-Bundesstaat Vermont fand er eine Gegend, die ihm einsam genug war. Solschenizyn wurde 1990 nach dem Fall der Mauer in Russland rehabilitiert, er kehrte 1994 nach Moskau zurück. Im Westen war es ruhig um ihn geworden, in Gesprächen und Publikationen war er konservativ und nationalistisch und zeigte sich besorgt über den in seinen Augen steigenden Einfluss der Nato in Osteuropa. 2007 zeichnete ihn Präsident Putin mit dem Staatspreis der Russischen Föderation aus. Am 3.August 2008 starb Alexander Solschenizyn in Moskau an den Folgen eines Schlaganfalls.
Cyrill Stieger, ehemaliger NZZ-Osteuropa-Spezialist würdigt den letzten Lebensabschnitt des Schrifstellers so:
«Solschenizyn war vor allem in seinen letzten Lebensjahren in Moskau ein grossrussischer Chauvinist. Für ihn gab es keine ukrainische Nation, die Ukrainer waren für ihn Russen, die Ukraine ein Teil Russlands. Auch glaubte er, in gleicher Weise wie Fjodor Dostojewski, an eine zivilisatorische Mission Russlands. Er war überzeugt davon, dass nur ein starker Staat das Überleben Russlands garantieren könne. Er fürchtete das Abgleiten des Landes ins Chaos und hielt sich von demokratischen Bewegungen in Russland fern. Er hat in den letzten Lebensjahren mehrmals Putin gelobt, er war in jener Zeit das, was wir heute einen Putin-Versteher nennen würden. Er erhielt zwar 2007 den höchsten Preis der russischen Föderation, 1998 hat er einen staatlichen Orden aber noch abgelehnt. Bei der feierlichen Beisetzung Solschenizyns auf dem Donskoi-Friedhof in Moskau 2008 war auch Putin anwesend.»
Solschenizyn wusste wohl, dass er auch im Ausland durch den Geheimdienst KGB beobachtet wurde. Aber er ahnte nicht, wie nahe ihm der KGB in der Schweiz gekommen war. Das wurde erst 1998 klar, als die so genannten Mitrochin-Papiere veröffentlicht wurden. Es handelte sich dabei um Abschriften von Dokumenten, die der KGB Agent Wassili Mitrochin gemacht hatte, bevor er 1992 in den Westen überlief. In den Mitrochin-Papieren werden Einzelheiten der Solschenizyn-Operation, die den Tarnnamen ‘Pauk’ trug, beschrieben: Es ging nicht nur darum, Solschenizyn lückenlos zu überwachen, sondern auch, ihn im Westen zu diskreditieren. Zu diesem Zweck hatte man eine Agentin in seiner Nähe platziert: Die Exil-Tschechin Valentina Holub und ihren Ehemann. Die Tschechin meldete sich gleich am ersten Tag seiner Ankunft in Zürich bei ihm und machte sich in der Folge durch Besorgungen unentbehrlich. Die Publikation eines diffamierenden Buches über Solschenizyn scheiterte am Tod dessen Autors Frank Arnau, der 1976 im Tessin starb.
Solschenizyn erklärte in seinen Memoiren später, dass er zunächst keinen Verdacht geschöpft habe, Valentina Holub und ihr Mann waren ja Tschechen und nicht Russen. Später wurde er jedoch misstrauisch. Sein zeitweises Exil im Tösstal war auch eine Flucht vor diesen zwielichtigen Figuren. In dieser Zeit soll er auch bei der Polizei vorgesprochen haben. Dort liess man ihn wissen, dass man nicht in der Lage sei, ihn zu schützen. Die Polizei empfahl aber, im Bauernhaus in Sternenberg nachts immer zwei Kübel mit Wasser bereitzustellen, falls jemand einen Brandanschlag verüben sollte.
KASTEN
Mit der «Solschenizyn Tour» unterwegs
Der ehemalige Sozialarbeiter Erwin Fässler hat sich vor ein paar Jahren mit einer originellen Geschäftsidee selbständig gemacht. Er verkauft massgeschneiderte Touren und führt kleine Gruppen von Touristen – meist Ausländer – zu bekannten und weniger bekannten Plätzen in der Schweiz. So gibt es eine Tour zu Niklaus von der Flüe oder eine Appenzeller Tour. Besonders bei Indern ist seine Bollywood Tour beliebt. Er zeigt seinen Gästen Drehorte von berühmten indischen Filmen. Diese hat er vorher in jahrelanger Arbeit vor Ort ausgekundschaftet. Fässler hat über 100 Bollywood Filme durgeschaut und gilt als der beste Kenner von Bollywood-Drehorten in der Schweiz.
In einigen seiner Touren besucht er auch das Zürcher Oberland und das Tösstal. So etwa mit der ‘Erwins Bänkli-Tour’: Sie führt zu Aussichtsplätzen im Tösstal: zum Beispiel zum Grillplatz unter der Linde auf der Sedelegg beim Sitzberg oder zu einem Aussichtspunkt am Dorfausgang von Schindlet, wo man einen tollen Blick auf die Landschaft des Tösstal hat. Der Ort heisst bei den Einheimischen ‘Heimweh-Bänkli’: «Ich habe in dieser Gegend wichtige Jahre meiner Kindheit verbracht, und ich möchte gerne etwas von dieser glücklichen Zeit an meine Gäste weitergeben», erzählt Fässler. Der Name ‘Erwins Bänkli-Tour’ sei übrigens nicht von ihm, sondern von einem Gast, der eine Besprechung auf einer Social Media Plattform hinterlassen hat.
Touren mit Bezügen zu Russland gibt’s zwei: «Auf den Spuren von General Alexander Suworow», sie führt über verschiedene Bergpässe. Bei der Tour «Alexander Solschenizyn’s Versteck» geht’s ums Tösstal und das Zürcher Oberland. Die Tour beginnt meist in Zürich. In Illnau gibt’s einen ersten Stopp bei der Schokoladefabrik Pfister, danach geht’s weiter zum Tibet Institut in Rikon und via Kloster Fischingen dann nach Sternenberg, wo er die Geschichte des russischen Nobelpreisträgers erzählt und das Haus, wo Solschenizyn 1974 ein paar Monate lebte, zeigt.
Post Skriptum
Es gab bereits in den 1970er Jahren kritische Stimmen zu Alexander Solschenizyn. Eine war jene des amerikanischen Journalisten Hedrick Smith. In seinem Buch “The Russians” kam er schon 1976 zu einer differenzierten Einschätzung des russischen Literaturnobelpreisträgers:
Im Westen hat in Bezug auf Solschenizyn eine verspätete Desillusionierung eingesetzt, die angesichts der falschen Vorstellungen, die man sich vorher von dem Mann und darüber hinaus vom russischen Wesen machte, wohl unausbleiblich war. Solschenizyn düpierte alle Erwartungen, die man im Westen hegte. Die Öffentlichkeit war bestürzt, dass der heroische Systemkritiker, der über den Terror eines Polizeistaates Zeugnis abgelegt hatte, auch die Demokratie zu verachten schien. Es wurde lästig, dass er sich als moralischer Absolutist erwies, so besessen von seiner heiligen Mission, Mütterchen Russland vom Stalinismus und Marxismus zu befreien, dass er der vulkanischen Eruption seiner Werke auch dann nicht Einhalt gebieten wollte, als das Ausland fast übersättigt schien. Als sein persönliches Manifest erschien *, empfand man es als Schock, dass es kein Modell einer aufgeschlossenen, urbanen, wissenschaftlich orientierten Gesellschaft enthielt, die den Anschluss an die moderne Zeit sucht, sondern die mystische Vision einer Zukunft, die zur Hälfte aus Vergangenheit besteht, einen Traum vom Heiligen Russland, dessen Wiedergeburt durch den Rückzug aufsich selbst und durch die Abkehr vom 20. Jahrhundert bewirkt werden soll. Die westliche Öffentlichkeit, gewöhnt, ihr eigenes Selbstverständnis durch Kritik von links in Frage gestellt zu sehen,und zu rasch bereit, die russische Rechte zu ignorieren, empfand sein Rezept als merkwürdig archaisch. Doch seine Spielart religiöser Russophilie artikuliert ein ganzes Syndrom von Empfindungen, die für viele Russen grösste Bedeutung besitzen.
- Offener Brief an die Führung der UdSSR.
Hedrick Smith: Die Russen. New York 1976. Deutsch 1977. S.518
Dieser Artikel erschien am 6.Mai 2022 in leicht gekürzter Form in der Zeitung Tössthaler und am 16. Mai 2022 im Winterthurer Landbote online, am 17. Mai auch im Print