Vom KZ-Buchenwald in die Schweiz: Der Bericht von Charlotte Weber

Meine Weihnachtskolumne im Tössthaler vom 11.Dezember 2020 widmete ich der Flüchtlingshelferin Charlotte Weber, die als Inspiration für die SRF-Serie „Frieden“ diente.

Mit atemloser Spannung haben wir uns im November die sechsteilige Serie „Frieden“ des Schweizer Fernsehens angeschaut. Die Serie spielt im Frühjahr 1945 also unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und es geht um eine Gruppe von Jugendlichen aus dem Konzentrationslager Buchenwald, die für ein paar Monate in der Schweiz aufgenommen werden. Das Drehbuch für die Serie hat Petra Volpe geschrieben, die uns schon mit dem Film „Die göttliche Ordnung“ über die Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz begeistert hat. Die Story ist zwar erfunden, aber der Hintergrund ist real und zeichnet kein schönes Bild der Nachkriegs-Schweiz.

Zwei Geschichte sind ineinander verwoben: Die Geschichte der Textilunternehmerfamilie Tobler und der Aufenthalt der Jugendlichen aus dem KZ. Für beide Geschichten gibt es reichlich Quellen: Dazu gehört vor allem die Vorgeschichte der Ems-Chemie. Sie wurde im Krieg als Holzverzuckerungs AG (Hovag) gegründet und fand nach dem Krieg im Bereich der Kunstfasern ein neues Wirkungsfeld. Das Wissen kam – genau wie im Film – von einem deutschen Ingenieur: Johan Giesen, der während des Zweiten Weltkrieges in einem Industriebetrieb in Auschwitz unmittelbar neben dem Vernichtungslager eine Produktion aufbaut. Natürlich hat er vom industriell organisierten Morden in der Nachbarschaft nichts gemerkt, sagte er nach dem Krieg aus. Das ist hässlich. Dann geht es um den Aufenthalt einer Gruppe von Jugendlichen auf dem Zugerberg: Sie kamen ursprünglich aus dem Vernichtungslager Auschwitz, und wurden gegen Ende des Krieges, als die alliierten Truppen näher rückten, in schrecklichen Todesmärschen ins Konzentrationslager Buchenwald verlegt. Deshalb nannte man sie in der Schweiz die Buchenwald-Kinder. Auch diese Geschichte ist verbürgt und hat sich weitgehend so abgespielt, wie es im Film dargestellt wurde. Warum Kinder, wenn es doch junge Männer waren? In den Papieren waren sie alle als Kinder ausgewiesen, sie deklarierten ihr Alter falsch, um ihre Überlebenschancen im KZ zu erhöhen. Der Begriff ist in der Geschichtsschreibung geblieben.

Zwei starke Frauenfiguren, die im Film im Heim auf dem Zugerberg arbeiten  – Klara und ihre Schwiegermutter Elsie – sind von einer wirklichen Person inspiriert: Charlotte Weber. Sie war eine der Leiterinnen des Heimes. Charlotte Weber wurde 1912 geboren, sie war also 1945 also 33 Jahre alt. Sie starb im Jahr 2000 und hat 1994 also wenige Jahre vor ihrem Tod ein Buch über jene Jahre geschrieben. Das war nur möglich, weil sie damals ein Tagebuch führe und viele Unterlagen aus jener Zeit aufbewahrt hat, darunter auch Briefe mit hässlichen Vorwürfen ihrer Vorgesetzten.

Der Titel ist seit kurzem wieder im Buchhandel. Ich habe das Buch verschlungen und feststellen müssen: Der Film entspricht weitgehend den Tatsachen, wie sie Charlotte Weber schildert. Die Jugendlichen aus dem KZ wurden mit wenig Enthusiasmus aufgenommen. Beschwerten sie sie sich, so konnten sie schon mal hören „Du kannst ja zurück gehen“. Von der jungen Lehrerin wurde erwartet, dass sie einen militärisch geordneten Betrieb führte. Das Buch zeichnet kein gutes Bild ihrer vorgesetzten Stelle, dazu gehörte auch das Schweizerische Roten Kreuz, das damals offenbar weitgehend von Militärköpfen bestimmt wurde. Ihre Schilderungen haben mich immer wieder beschämt. Kleines Beispiel: Sie hat mit den Jugendlichen musiziert und dafür in Zürich ein Klavier gemietet. Um die Rechnung entbrannte ein Streit mit ihren Vorgesetzten, der zu einem Briefwechsel über 17 Dokumenten führte. Schliesslich übernahm eine Stiftung den kleinen Betrag. Die Dokumente, die sie im Buch wiedergibt, sind erschütternd. So schildert etwa der damals 19jährige Max Perkal über mehrere Seiten die Grausamkeit des Vernichtungslagers Auschwitz – an der berüchtigten Selektionsrampe wurde auch er von seiner Familie getrennt, die danach ermordet wurde. Nachts ist Charlotte Weber oft am Bett dieser jungen Männer gesessen und hat sie getröstet. Sie hatten alles verloren und ihre Zukunft war ungewiss. Jüdische Organisationen warben um sie, man suchte Auswanderer für Palästina. Der Staat Israel wurde ja erst 1948 gegründet. Dort hätten sie erst noch einmal zwei Jahre in einem Kibuz arbeiten müssen. Viele wären lieber in der Schweiz geblieben und hätten hier eine Ausbildung gemacht und einen Teil der verlorenen sechs Kriegsjahre nachgeholt. Die Schweiz war nicht daran interessiert und wollte sie loswerden. Die ganze Aktion war auch nur dem Schein nach humanitär, es ging eher darum, das angeschlagene Image der Schweiz etwas zu polieren. Stichwort: Nazi-Gold.

Charlotte Weber war eine mutige Frau, sie sich in einer weitgehend von Männer dominierten patriarchalischen und militärisch orientierten Gesellschaft durchsetzen musste. Mindestens zweimal wurde sie während ihres Einsatzes entlassen. Dagegen hat sie sich erfolgreich gewehrt – in einem Fall hat die ganze Belegschaft mit Streik gedroht, wenn die Kündigung nicht zurückgenommen würde. Die Vorgesetzten sind dann zurückgekrebst.

Charlotte Weber hat sich Tag und Nacht für ihre Schützlinge eingesetzt auch noch nach ihrem Einsatz auf dem Zugerberg. Das Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich bewahrt ihren Nachlass auf, darunter auch die Korrespondenz mit den Buchenwaldkindern. Ich habe einige der Briefe lesen können. Mir war klar: Diese Frau hat über Jahre nichts anders gemacht als gekämpft und zum Beispiel nach Ausbildungs-Möglichkeiten für die kriegsgeschädigten Jugendlichen gesucht und den jungen Männern immer wieder gut zugeredet.

Es gibt sie auch heute, solche Frauen, die oft im Stillen wirken. Dazu zählt etwa die heute 74 jährige Basler Menschenrechts-Aktivistin Anni Lanz. Sie hilft Flüchtlingen und nimmt dafür auch mal eine Verurteilung in Kauf. Ich weiss, dass es auch in unserer Umgebung Frauen gibt, die sich für Flüchtlinge einsetzen, zum Beispiel indem sie einen Treffpunkt für Frauen organisieren und den Menschen auch im Umgang mit den Behörden helfen. Denn eigentlich geht es in diesem Film nicht nur um die Geschichte, es geht um eine Haltung, die es auch heute braucht. Übrigens nicht nur in der Weihnachtszeit

Die Serie „Frieden“ ist auf der Streaming Plattform von SRF verfügbar. www.playsuisse.ch

Charlotte Weber: Gegen den Strom der Finsternis. Als Betreuerin in Schweizer Flüchtlings-Heimen 1942 – 1945. Zürich. Chronos Verlag 1994 und 2000. Link