Als „embedded journalist“ in Stalingrad: Wassilij Grossman

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Ausgerechnet in einem englischen Bookshop in Paris finde ich ein Buch, das mich für Tage fesselt und mich kurze Zeit später in die Zentralbibliothek treibt – nur wenig ist von diesem heute fast unbekannten Autor im deutschen Sprachraum zu finden. Die Rede ist von Wassilij Grossman’s Aufzeichnungen aus dem Krieg:“A Writter at War. A Sovjet Journalist with the Red Army 1941 – 1945″. Grossman begleitete die Rote Armee – er erlebte zahlreiche Schlachten und teilte ihren Alltag. Für mich eines der wichtigsten Bücher der letzten Jahre.


Grossman schreibt nicht ohne Pathos und Patriotismus. Wären seine Notizbücher je kontrolliert worden, so wäre ihm wohl der Tod gewiss gewesen. Und so erstaunt es nicht, dass diese Notizbücher erst mit einer riesigen zeitlichen Distanz publiziert werden konnten – im Jahre 2005.
Grossman war in der Zeit des Zweiten Weltkrieges Journalist bei der in Moskau erscheinenden Armeezeitung „Roter Star“. Seine Berichte, das wird beim Lesen des Buches klar, waren beim Publikum beliebt – trotz Zensur schaffte er es immer wieder, das ungeschminkte Gesicht des Krieges zu zeigen. Grossman schafft das ohne Zynismus – zahlt aber selber einen erheblichen Preis, wie er selber bemerkt:
„It is infinitely hard even to read this. The reader must believe me, it is as hard to write it. Someone might ask: Why write about this, why remember all that?. It is the writer’s duty to tell this terrible truth, and it is the civilian duty of the reader to learn it. Everyone who would turn away, who would shut his eyes and walk past would insult the memory of the dead.“ (S. 301)
Grossman berichtet auf Dutzenden von Seiten über die endlos lange Agonie in Stalingrad. Aber letztlich war Stalingrad nur eine Schlacht von vielen – viele Orte auf der Karte tragen Namen, die kaum bekannt sind. Und immer wieder beobachtet er Dinge, die seinen Oberen wohl kaum genehm waren: Etwa wie die ukrainische Bevölkerung mit den deutschen Besatzern kooperierten, er berichtet über Deserteure, die sofort erschossen wurden. Zu den eindrücklicksten und vielleicht auch schrecklichsten Passagen des Buches gehört seine Beschreibung seines Heimatortes Berdichev in der Ukraine, wo seine Familie lebte. Seine Mutter wurde dort ermordet.
Grossman war unter den ersten, die das Konzentrationslager von Treblinka bei Lublin besuchen konnte. Seine Schilderungen sind in die Geschichte eingegangen und wurden auch bei der Anklage der Kriegsverbrecherprozesse von Nürnberg verwendet.
Wassilij Grossman verarbeitete seine Kriegserfahrungen in einem grossen Roman „Leben und Schicksal“, den die Zensur nach der ersten Lektüre sofort verbot. Dieses Buch dürfe für Hunderte von Jahren nicht erscheinen, beschied man damals. 1981 – lange nach dem Tod des Autors im Jahre 1964 – erschien das Buch dann doch, im Zeichen von Perestroika und Glasnost.
Russland und die Staaten der ehemaligen Sowjetunion haben – das wird gerne vergessen – mit der unvorstellbar grossen Zahl von 40 Millionen Toten am meisten Opfer zu beklagen. Und nicht genug damit: Mit dem Totalitarismus Stalins wurde dieses Volk ein zweites Mal bestraft. Man ist versucht zu ergänzen: Die jüdische Minderheit, zu der auch Grossman gehört, ein drittes Mal, denn in der Geschichtsschreibung der Sowjetunion wurde der Holocaust schlicht verleugnet.
Vasily Grossman: A Writer at War. A Soviet Journalist with the Red Army, 1941-1945. Vintage Books. 2005.
Wikipedia Artikel über Vasily Grossman in englischer Sprache
Wikipedia Artikel über Wassili Grossman in deutscher Sprache
Übrigens: Für den Vornamen gibt es mindestens 3 Schreibweisen: Vasily (engl.) und Wassili oder Wassilij (dt.)
Russlandfeldzug und Kriegsende aus russischer Sicht – eine bemerkenswerte Website in deutscher Sprache.
Bekannter als der russische Schriftsteller Grossman ist der Fotograf Ewgeni Chaldej, dessen (gestelltes) Foto vom deutschen Soldaten, der auf dem Reichstag die sowjetische Fahne hisst, zur Ikone geworden ist.

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