Genua – das Meer der Schweiz

In der Literatur stösst man immer wieder auf den Begriff «Genua – das Meer der Schweiz». Tatsächlich ist eine Reise in die italienische Hafenstadt für die Schweiz die nächste Verbindung ans Mittelmeer. Ab Zürich fährt man nur gerade fünf Stunden mit der Bahn, allerdings gibt’s die direkten Züge nur in der warmen Jahreszeit unter der Voraussetzung, dass der Gotthard Basistunnel wieder repariert ist, was etwa ab September 2024 der Fall sein soll.

Auch in früheren Zeiten war Genua nahe, ganz besonders seit der Eröffnung des ersten Gotthardtunnels 1882. Wer sich mit der Stadt beschäftigt, stösst immer wieder auf Schweizer Namen. Eine Person, die sich intensiv mit der Geschichte der Stadt – und der Schweizer in dieser Stadt beschäftigt hat, ist die Bündnerin Prisca Roth. Sie hat 2022 das Buch «Genua – la Superba» im Verlag hier & jetzt herausgegeben. Ein dickes Buch und weit mehr als ein Reiseführer, nicht zuletzt dank der tollen Gestaltung. Gross gesetzte Zitate aus dem Buch «Die unsichtbare Stadt» von Italo Calvino strukturieren den umfangreichen, reich illustrierten Band.

Wir stürzen uns sofort auf das Schweizer Kapitel «Genua – das Meer der Schweiz – Von Hotelköniginnen und Bergbahnpionieren, Zuckerbäckern und Prostituierten – Eine Hommage an Genuas Migrationsgeschichte»

Diese Geschichte beginnt bereits im 15.Jahrhundert, als es vor allem Tessiner Baumeister waren, die ihren Weg nach Genua fanden: Prisca Roth nennt die Namen Taddeo Carleone (1543-1615), Domenico Gaggini (1425 – 1492), Simone Cantoni  (1739 – 1818) und seinen Bruder Bernardo Cantoni  (1745-1827). Sie alle haben in Genua ihre Spuren hinterlassen.

Von unserem letzten Besuch ist uns neben Christoph Kolumbus, der 1451 hier geboren wurde, der Name Klainguti in Erinnerung. Einer der vielen Zuckerbäcker aus dem Bündnerland, die ihr Glück in der Fremde fanden. Prisca Roth weiss mehr über die Familie und die Bäckerei: Nach der Legende, sollen 1828 vier Brüder aus Pontresina nach Genua gekommen sein, um von hier das Schiff nach Amerika zu nehmen. Weil sie das Schiff verpassten, blieben sie in der Stadt. Das ist eine gute Geschichte, sie stimmt wohl nicht ganz: Prisca Roth schreibt, dass bereits 1813 ein gewisser «Kleingeist, Jean aus Semadino, Grisons» nach Genua kam und als Bäckergehilfe arbeitete. Schon 1825 holte er – mittlerweile erwachsen – seine beiden Brüder nach. 1825 eröffneten sie ein erstes Geschäft, dem später ein weiteres folgen sollten. Zu ihren Kunden zählte auch Giuseppe Verdi und die Bündner Bäcker schufen als Hommage an ihn die Brioche Falstaff.

Um 1850 sollen über 70 Bündner Zuckerbäcker in der Stadt ihr Auskommen gefunden haben. Es sind wohl weit mehr Bündner ausgewandert, als man früher dachte, das sagte uns der Bündner Historiker Peter Michael-Caflisch, der ebenfalls im Zürcher Verlag hier & jetzt publiziert hat. Er ist auf eine Zahl von über zehntausend gekommen. Er erklärt auch, dass der Begriff der Zuckerbäcker mehr als nur die Patissiers umfasste, sondern eine grosse Gruppe von Menschen, die im Bereich der Gastronomie arbeiteten, sogar Bierbrauer würden darunterfallen. Die Geschichte der Klainguti-Brüder ist typisch: Jean oder Gian begann nicht als Unternehmer, sondern als Bäckergehilfe – und holte später seine Brüder nach. Die Arbeit im Gastgewerbe war ausserordentlich personalintensiv; in einem Café sollen damals schnell einmal vierzig und mehr Personen gearbeitet haben.

Neben den Zuckerbäckern spielten auch die Hoteliers eine wichtige Rolle – so etwa die beiden Innerschweizer Josef Bucher (1834-1906) und Josef Durrer (1841-1919). Sie betrieben auf einem Hügel über der Stadt ein berühmtes Hotel und sorgten dafür, dass es durch eine Standseilbahn erschlossen wurde. Originellerweise verpassten sie dem Hotel den Namen Righi, ein Name, der sich jeder merken konnte. Die beiden hatten ihr Geld mit einer Holzparkettfirma gemacht wobei sie das Holz aus Siebenbürgen importierten.  Gebaut wurde die Bahn allerdings nicht von ihnen sondern von den beiden Ingenieuren Olivier Zschokke und Niklaus Riggenbach. Oliver Tschokke (1826-1898) war Ingenieur und Sohn des Schriftstellers Heinrich Tschokke. Er war der Compagnon von Niklaus Riggenbach (1817-1899) und baute mit ihm 1871 die Vitznau-Rigi Bahn, die erste Zahnradbahn Europas.

Besonders berührend im Buch von Prisca Roth sind die Darstellungen von drei Schweizer Hotelier-Frauen aus Nervi:

Margarita Fanconi-Klainguti betrieb das Hotel Eden in Nervi 1888-1890. Ihr Vater war Gian, der älteste der drei Klainguti Brüder, von dem oben schon die Rede war. Mit ihrem zweiten Mann übernahm sie vom Engadiner Hotelpionier Johannes Badrutt das Hotel «A la vue du Bernina» in Samedan. Ihr Mann starb wenige Wochen vor der Eröffnung. 1888 kaufte man das Hotel Eden in Nervi.  Sie starb am 25. Februar 1890 nur zwei Jahre nach dem Kauf des Hotels in Nervi. Ihr Sohn führte es bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg weiter. Heute ist das Hotel ein Privathaus.

Die zweite Hotelier-Frau ist Anna Dahinden-Adler (1849-1924) : Sie kam 1895 zum ersten Mal nach Nerv. Im Sommer das Rössli in Seewen, im Winter die Pensione Sanitas, die sie in Hotel Savoia umtauften. Anna starb 1907 und ihr Mann führte das Hotel weiter mit seiner zweiten Frau Josephine. 1938 wurde das Hotel zu einem Palast umgestaltet. Viele Schweizer aus Genua flüchteten nach Nervi.  Berühmte Gäste: Zarli Carigiet, Hemingway und General Guisan dessen Frau sich als «Ombre du General» eintrug. 1982 verkauft.

Paulina Scheuber ist die dritte: Sie aus aus Riggisberg und war 1864 in Büren auf die Welt gekommen. Paulina reisst als Mädchen von zuhause aus und fährt nach Nervi, ihre Grossmutter hatte ihr etwas Geld gegeben. Dort arbeitet sie als Küchenhilfe und betreut eine reiche Familie aus Buenos Aires, die sie nach Südamerika mitnehmen. Dort wird sie Zeugin und fast Opfer eines Brandes in der Oper, rettet die Kinder in ihrer Obhut aus dem brennenden Haus und wird dafür mit einem grossen Geldbetrag belohnt. 1888 fährt sie zurück nach Nervi und kauft dort die Villa Pagoda. Sie stattet das Haus mit chinesischen Vasen, Teppichen und Dekorationen aus. 1899 heiratet sie einen Deutschen und wird somit Deutsche, vor dem Ersten Weltkrieg flieht sie in die Schweiz. Zurück in Italien will verhaftet man sie wegen Hinterziehung von Konkursgut, mit viel Aufwand gelingt es ihr, das Hotel wiederherzustellen. Vor dem Zweiten Weltkrieg geht sie zurück in die Schweiz und stirbt 1853.

Last but not least müssen wir einen weiteren Bündner erwähnen, ein alter Bekannter: Der Kapuzinerpater Alexander Lozza (1880 – 1953): er hat sein Leben als Kapuziner, als Jäger und Wilderer (so sagt man im Tal) in Salouf und Tiefencastel verbracht und war auch für den Wallfahrtsort Ziteil zuständig. Kapuziner geworden ist er, weil ihn ein Kapuzinerpater von seinem Heimatort in Marmorera nach Genua mitgenommen hat, wo er nicht besonders glücklich war und unter starkem Heimweh litt. Wir haben bei unserem kurzen Besuch in Genua keine Spuren von Alexander Lozza entdeckt, fanden aber auf dem Friedhof Staglieno eine Marmorskulptur, die dem Kapuzinerpartner aufs Haar glich.

Ein Kapuzinerpater an einem Grab auf dem Friedhof von Staglione in Genua. Foto Dominik Landwehr


Literaturtipp
Prisca Roth. Genua – la Superba. Zürich 2022. Verlag hier & jetzt. Alle Infos online
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