Der Winterthur Ingenieur Otto Lüscher und der Zwischenfall im AKW Lucens von 1969

Der Name Lucens steht für eine grosse Havarie in der Geschichte der Atomkraft: Das Unglück ereignete sich am 21.Januar 1969, hat aber in der Schweiz kaum Spuren hinterlassen. Mittendrin war damals der Winterthurer Sulzer-Ingenieur Otto Lüscher. Dominik Landwehr hat den heute 93jährigen besucht.

Am 21. Januar 1969 ereignete sich im Schweizer Versuchsatomkraftwerk Lucens ein folgenreicher Zwischenfall. Im Innern des Reaktors schmolz einer der Brennstäbe, der Reaktor wurde weitgehend zerstört und rund 1100 Liter radioaktivesSchwerwasser traten aus. Geringe Mengen radioaktiver Gase gelangten in die Umwelt. Der Traum eines eigenen Reaktors war zwar schon zwei Jahre vorher begraben worden, aber der Versuchsbetrieb musste nun nach nur einem statt zwei Jahren abgebrochen werden. Der Unfall im schweizerischen Lucens figuriert auf der internationalen Skala von Nuklear-Ereignissen mit einem Wert von 4-5 bei einem Maximalwert von 7; Er ist vergleichbar mit dem Unglück von Harrisburg vom 28.März 1979.

Otto Lüscher mit dem Abstandshalter für die Brennstäbe eines Versuchsreaktors. Foto Dominik Landwehr 2021.

Mitten drin in der unglücklichen Geschichte des Schweizer Versuchsreaktors der Ingenieur Otto Lüscher. Der 1928 geborene Winterthurer arbeitete 1954 bis 1988 für Sulzer und war Konstruktionschef in der Abteilung Kernenergie. Ein kleines Souvenir erinnert an diese Zeit: Auf dem Esszimmertisch liegt ein dekorativer Untersetzer aus Leichtmetall mit etwa 15 Zentimeter Durchmesser. «Das war ein Abstandshalter für Brennstäbe, absolute Präzisionsarbeit unserer Schweisser. Er fand sich auch beim Versuchsreaktor in Lucens.»

Abstandshalter für die Brennstäbe eines Versuchsreaktors, die in den 1960er Jahre bei Sulzer in Winterthur gefertigt wurden. Foto Dominik Landwehr 2021.

Um das Drama um den zerstörten Versuchsreaktor von Lucens besser verstehen zu können, müssen wir ans Ende des Zweiten Weltkrieges zurückgehen. Der Schock über die Abwürfe der Atombombe in Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9.August 1945 veränderten die Welt für immer und läutete das Atomzeitalter ein. Die schreckliche Waffe weckte auch in der Schweiz Begehrlichkeiten und den Wunsch, eigene Atombomben zu besitzen. Nur wenige Monate nach Kriegsende ruft der Bundesrat die Studienkommission für Atomenergie SKA ins Leben, im Februar 1946 beauftragt Bundesrat Karl Kobelt diese Kommission mit der Entwicklung einer Schweizer Atombombe. Der Beitritt zum Atomsperrvertrag beendete diese Diskussionen Ende der 60er Jahre. Richtig konkret wurde es mit der Schweizer Atombombe nie. «Die Schweizer Atombombe war bis zum Ende des Kalten Kriegs nichts anderes als ein Papiertiger, der nur in den Köpfen einiger weniger Militärs existierte», sagt der Historiker Michael Fischer, Autor des Buches «Atomfieber».

Die friedliche Nutzung der Atomenergie versprach nach dem Krieg die Lösung der Energieprobleme in einer schnell wachsenden Wirtschaft mit einem grossen Energiehunger.  Es dauerte aber mehr als zehn Jahre, bis konkrete Projekte vorlagen. Ende der 1950er Jahre wurden dem Bundesrat drei Projekte für eine finanzielle Unterstützung unterbreitet: Das erste Projekt schlug den Bau eines Atomreaktors unter der ETH Zürich vor. Das zweite Projekt kam aus der Westschweiz und sah den Bau eines Versuchsreaktors in Lucens vor. Ein drittes Gesuch kam von den vier grössten Elektrizitätsgesellschaften, sie beabsichtigten ein schlüsselfertiges Atomkraftwerk in den USA zu kaufen. Gefördert wurde schliesslich die Entwicklung des Versuchsatomkraftwerkes in Lucens. Er war nach einigen Modifikationen als Schwerwasser-Reaktor ausgelegt und konnte damit nichtangereichertes Natururan als Brennstoff verwenden; für die Urananreicherung verfügten die damaligen Atommächte über ein gut gehütetes Monopol. Das vereinfachte die Beschaffung. Überraschend aus heutiger Sicht: Die friedliche Nutzung der Kernkraft zur Energieproduktion war damals in der Schweiz nicht kontrovers und wurde von allen Parteien unterstützt. Die Anti-Atomkraftbewegung entstand erst in den 70er Jahren.

Mitte der 50er Jahre kam auch Otto Lüscher zur Kernkraft und zwar fast wie die Jungfrau zum Kind.  Er arbeitete damals im Bereich Apparatebau von Sulzer. Eines Tages wurden die Ingenieure seiner Abteilung ins Büro gerufen. Man teilte ihnen mit, dass Sulzer diese Gruppe auflösen würde und die Ingenieure eine neue Arbeit suchen mussten. Das war für den jungen Lüscher kein Problem und er interessierte sich für eine Stelle bei Hoffman-La Roche. Noch während des Vorstellungsgesprächs in Basel hätte beim dortigen Personalchef das Telefon geklingelt: Lüscher würde bei Sulzer gebraucht. Zurück in Winterthur erfuhr Lüscher, dass er ab sofort für die Sparte Kernkraft arbeiten würde. «Aber ich habe doch keine Ahnung von diesem Thema», meinte er. Kein Problem, entgegnete man ihm, man würde ihn ausbilden und so geschah es dann auch. Die kleine Anekdote ist typisch für die Situation jener Zeit: Es gab in der Schweiz zwar Nuklearphysiker wie etwa den berühmten ETH-Professor Paul Scherrer (1890 – 1969). Aber Ingenieure, die diese Technologie kannten und beherrschten gab es noch nicht.

Schematische Darstellung des Versuchsreaktors von Lucnes. Foto ETH-Bildarchiv (Comet)

Lucens war als Versuchsatomkraftwerk mit einer kleinen Leistung geplant. Trotzdem war der Bau eine Mammutaufgabe, niemand in der Schweiz hatte etwas Ähnliches je gebaut. Träger des Projekts war ein Konsortium namens Thermatom in dem zahlreiche Schweizer Industriefirmen wie Sulzer, Escher-Wyss, Landis & Gyr, Sécheron zusammengeschlossen waren. Nicht dabei war die Badener BBC, die sich mit den Nordostschweizer Kraftwerke NOK und weiteren Elektrizitätswerken für den Kauf eines fertigen AKWs engagierte, wo sie die Turbinen liefern konnte. Die Winterthurer Sulzer betrachtete es zu diesem Zeitpunkt als existenziell, bei der Entwicklung eines Schweizer Reaktors dabei zu sein, sie war weltweit führend bei Entwicklung und Produktion von Hochdruck-Dampferzeugern für thermische Kraftwerke, bei der Produktion von Diesel-Generatoren. Die Führung der Thermatom lag denn auch bei Sulzer.

Otto Lüscher war für die Bereitstellung von Brennelementen verantwortlich. Auch dazu weiss er eine Geschichte aus jener Zeit: Sulzer musste Brennstäbe für einen anderen, kleineren Versuchsreaktor namens Diorit in Würenlingen beschaffen und eine Firma aus dem französischen Grenoble hatte den Zuschlag erhalten. So fuhr er mit seinem Wagen zur Abnahme einer ersten Teillieferung und als er die handliche Kiste erblickte schlug er vor, sie gleich in seinen Wagen zu packen. Der zuständige Vertreter der Verkaufsfirma fand das keine gute Idee, willigte aber schliesslich ein und so fuhr Otto Lüscher mit seinem Wagen zum Grenzübergang Genf. Dort wiederholten sich die Diskussionen und man wollte ihn nicht über die Grenze lassen. Der Beamte wollte die Brennstäbe keinesfalls im Zollgebäude lagern und stellte sie in einem Wirtshaus in der Nähe ein. Am nächsten Tag führ Otto Lüscher wieder mit dem Wagen vor, die Fragen waren offenbar mittlerweile geklärt, und so brachte er die kostbare Lieferung in die Schweiz.

Der Bau des Versuchsreaktors Lucens stand unter keinem guten Stern: Schon beim Bau der Kaverne gab es Probleme und es entstanden Risse im Felsen. Die Bauarbeiten verteuerten sich mehrmals und der Bund musste Nachtragskredite bewilligen. Aus den ursprünglich geplanten 64,5 Millionen Franken wurden schliesslich 112,3 Millionen Franken.

Am 7. Februar 1964 erlitt das Projekt einen weiteren Dämpfer: Die Nordostschweizer Kraftwerke NOK entscheiden sich definitiv für den Kauf eines fixfertigen Atomreaktors aus den USA. 1967 beschloss Sulzer, auf eine Eigenentwicklung zu verzichten.  Man war nüchtern zum Schluss gekommen, dass die Schweiz weder personell noch finanziell in der Lage war, eine solche Aufgabe zu stemmen. Angereichertes Uran war nun plötzlich leicht erhältlich und es gab einen Trend zu wesentlich grösseren Anlagen; Die Schwerwasser-Reaktoren vom Typ Lucens waren nicht mehr attraktiv.

Die Versuchsanlage Lucens wollte man jedoch fertig bauen und für zwei Jahre betreiben, um daran die Probleme, die beim Bau und Betrieb eines AKW auftreten, zu studieren.  Schliesslich funktionierten die von Escher-Wyss gelieferten Gebläse für die Umwälzung des Kühlgases CO2 nach anfänglich gutem Betrieb nicht richtig. Der Historiker Tobias Wildi, Autor der Studie «Der Traum vom eigenen Reaktor» schreibt: «Escher Wyss gelang es bis zuletzt nicht, die Gebläse befriedigend abzudichten.»

Blick ins Innere der Anlage von Lucens. Foto ETH-Bildarchiv (Comet)

Das Versuchsatomkraftwerk Lucens lieferte am 28. Januar 1968 zum ersten Mal Strom, den ersten Schweizer Atomstrom überhaupt. Im Lauf des Jahres 1968 wurde der Betrieb für anstehende Revisionen unterbrochen und während der Revision konnte Wasser eindringen und einige Brennstäbe begannen zu korrodieren. Das Ausmass der Korrosion wurde unterschätzt und so kam es dann zum fatalen Unglück am 21.Januar 1969. Das schreibt der Untersuchungsbericht, der erst zehn Jahre nach dem Unglück veröffentlicht wurde.

Otto Lüscher zeigt sich heute noch bestürzt, über die an sich banale Ursache der Havarie. «Unglaublich, dass man nicht mal diese einfache Technologie im Griff hatte». Die Geschichte von Lucens lehrt, dass die Beherrschung der Atomkraft eine Herkulesaufgabe ist und dass es eine lange Entwicklungsarbeit braucht. Die USA hatten einen riesigen Vorsprung und bauten bereits während des Krieges Kernreaktoren. Die Schweiz war erst spät in die Entwicklung eingestiegen und konnte den Rückstand nicht mehr wett machen.

Es gibt allerdings auch Stimmen, die das Ganze weniger dramatisch sehen: «Der Reaktor war auf zwei Jahre angelegt, er funktionierte während eines Jahres und erlaubte wertvolle Einsichten. Die Dimension der Havarie wird auch heute noch übertrieben dargestellt», sagt einer der direkt Beteiligten aus Winterthur, der seinen Namen nicht in der Zeitung sehen will.

Am Ende des Abenteuers gabs noch eine dicke Rechnung erinnert sich Lüscher: «Ich musste zwei Millionen Franken bei den 22 Mitgliedern des Thermatom-Konsortiums einsammeln und persönlich in Bern beim Chef der Nationalen Gesellschaft zur Forderung der industriellen Atomtechnik NGA abliefern. Dafür erhielt ich 500 Aktien der NGA im Wert von je einem Franken zurück. » Lucens war ein Trauma für die Schweizer Industriegeschichte. Der Kernenergie-Pionier Rudolf Sontheim nannte es 2003 «Das Marignano der Schweizer Industrie».

Sulzer fand nach dem Rückzug aus dem Lucens-Projekt neue Geschäftsfelder im Bereich der Komponenten für Atomkraftwerke: Reaktor-Druckbehälter, Reaktor-Containments,  Containment-Druckentlastungs-Anlagen, Dampferzeuger, Brennelement-Gerüste, Ventile. Sulzer konnte in diesem Bereich erfolgreich in viele Länder liefern. Neu engagierte man sich in der Bestrahlungstechnik für Lebensmittel und Medizinalzubehör, hier fand auch Otto Lüscher weitere Aufgaben. «So gab es für den Winterthurer Konzern trotz allem noch ein Happy End», sagt ein ehemaliger Sulzer Kadermitarbeiter.

*************************************************************************************

Der Kontrollraum des Versuchsreaktors von Lucens. Foto ETH-Bildarchiv (Comet)

Faszination Kernenergie

Von Dominik Landwehr

Mein Gesprächspartner hat Maschinenbau studiert und 1955 mit Diplom an der ETH abgeschlossen. Er war danach in der Industrie im Bereich Kernkraft und später in der Bundesverwaltung tätig, wo er sich ebenfalls mit Atomenergie beschäftigte. Er möchte seinen Namen nicht in der Zeitung sehen und hat die Fragen schriftlich beantwortet.

Was geht Ihnen in diesen Tagen durch den Kopf, als sie von der Drohung Russlands hörten, nukleare Waffen einzusetzen?

Ich beantworte gerne Fragen zu Entwicklung und Betrieb der Nutzung von Atomkernenergie für die Stromerzeugung in der Schweiz, möchte dabei aber keine Erwähnung oder Vergleiche mit militärischer Nutzung dieser Energie. Diese führen immer wieder dazu, dass die beiden Nutzungsarten als quasi gleichwertig und eng vermascht betrachtet werden, woraus sich ein Hauptargument der Kernenergiegegner entwickelt hat. In gleicher Weise müsste ja auch die gesamte Schwerindustrie abgelehnt werden, bei deren Entwicklung kriegerische Anwendungen ebenfalls eine Rolle spielten.

Sie haben fast das ganze berufliche Leben mit der friedlichen Nutzung der Atomenergie verbracht. Was hast sie daran fasziniert?

An der schweizerischen Landesausstellung 1939 galt das Schlagwort «Die weisse Kohle». Damit wurde die neu aufgekommene Möglichkeit bezeichnet, Strom mittels Wasserkraftwerken – insbesondere auch unter Einsatz künstlicher Stauseen – zu produzieren und so den Strombedarf der Schweiz eigenständig zu decken.

Ende der fünfziger Jahre waren dann aber Grenzen dieser Eigenständigkeit abzusehen. Gründe waren einerseits das unerwartet starke wirtschaftliche Wachstum des Landes, andrerseits aber auch die Opposition gegen einzelne Stauseeprojekte (zum Beispiel im Urserental). Als Alternativen standen zunächst thermische Kraftwerke, die mit Kohle oder Öl betrieben würden, zur Diskussion. Sie stiessen aber wegen der damit verbundenen Luftverschmutzung auf starke Ablehnung. Es war dann ausgerechnet ein sozialdemokratischer Bundesrat (Willi Spühler), der die Möglichkeit der neu aufkommenden Kernkraftwerke favorisierte.

Die schweizerische Maschinenindustrie hat zur Entwicklung thermischer Kraftwerke weltweit beachtliche Beiträge geleistet. Dazu gehören insbesondere die grossen Dampfturbinen von Brown Boveri und Escher Wyss sowie die grossen Dampferzeuger und mittelgrosse Dieselkraftwerke von Sulzer. Der Schritt zum Ersatz der fossilen Brennstoffe durch nukleare Spaltstoffe in Kernkraftwerken (KKW bzw. AKW) lag somit nahe.

Was waren die wichtigsten Stationen?

  • März 1955: Gründung der Reaktor AG mit Partnern aus der schweizerischen Industrie, Finanz- und Elektrobranche (Initianten Paul Scherrer und Walter Boveri). Ziel war die Entwicklung einer Reaktorlinie mit Natururan als Brennstoff.
  • 10. Oktober 1960: Inbetriebsetzung des von der Reaktor AG erstellten Forschungsreaktors Diorit.  
  • 28. Januar 1968: Einspeisung des ersten nuklear erzeugten Stromes in das öffentliche Netz der Schweiz. Der Strom kam vom Versuchsreaktor Lucens. Er wurde von der Arbeitsgemeinschaft Lucens gebaut. Das war ein Zusammenschluss schweizerischer Industriebetriebe ohne BBC, welche an einer Entwicklung in Deutschland, nicht aber in der Schweiz interessiert war.
  • KKW Beznau 1: Netzanschluss Juli 1969
  • KKW Mühleberg: Netzanschluss Juli 1971
  • KKW Beznau 2: Netzanschluss Oktober 1971
  • KKW Gösgen: Netzanschluss Februar 1979
  • KKW Leibstadt: Netzanschluss Mai 1984

Es gab ja verschiedene Phasen: Pionierzeit: Genfer Konferenz, kleine Versuchsreaktoren, Wie war die Stimmung in jener Zeit in Bezug auf die Nutzung der Atomenergie?

Initiant der Genfer Konferenz 1955 war der amerikanische Präsident Eisenhower, welcher das Interesse an der Atomkernenergie auf deren friedliche Nutzung lenken und dabei eine internationale Kontrolle über deren weltweite Verwendung erreichen wollte. Die Ende der fünfziger Jahre in Bau gegangenen KKW wiesen maximale Leistungen von 100 bis 200 MWe (Megawatt elektrsch) auf. Grössen die lange als Richtwerte für die schweizerischen Eigenentwicklungen dienten. 

Der Bundesrat hatte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ja auch beschlossen, eigene Atomwaffen herzustellen.

Ende 1945 wurde vom Chef des eidg. Militärdepartementes die Studienkommission für Atomenergie (SKA) gegründet. Zweck waren Studien über Möglichkeiten der Anwendung der Atomkernenergie, zunächst insbesondere militärischer Art. Einen Beschluss des Gesamtbundesrates, eigene Atomwaffen herzustellen, gibt es nicht. Nachdem diese Frage lange offen gehalten wurde, verzichtete der Bundesrat im November 1969 durch Unterschreiben des Atomsperrvertrages für die Schweiz endgültig darauf. 

Welche Rolle spielte der Unfall von Lucens? Welcher Schaden ist entstanden?

Die Havarie des Versuchsatomkraftwerkes Lucens (VAKL) im Januar 1969 war Folge eines Stillstandschadens in der Anlage. Als Ursache dieses Schadens kann das Fehlen einer Entwicklungsvorrichtung für eine Wasserringdichtung betrachtet werden. Diese war nach dem 1977 erfolgten Entscheid über den Verzicht auf die Weiterentwicklung des Lucens-Reaktortypes abgebrochen worden, ohne ihren allfälligen Nutzen während der noch bis Ende 1969 vorgesehenen Erprobung der Gesamtanlage zu berücksichtigen.  

 Wichtige Erfahrungen aus Bau und Betrieb des Versuchsatomkraftwerkes Lucens waren unter anderem:

  • Entwicklung von nuklear-spezifischen Komponenten wie z.B. die Dampferzeuger.
  • Erfahrung mit Werkstoffen wie Graphit, Zirkon, etc.
  • Verhalten und Bewährung spezieller Sicherheitsvorrichtungen für das zuverlässige Abstellen und das Zurückhalten freigesetzter Aktivstoffe in Extremfällen wie z.B. Bruchplatten und Felscontainment.
  • Besondere Bedeutung hatte die gemachte Erfahrung, dass schon bei der Festlegung des Konzeptes einer neuen Anlage die Sicherheit erste Priorität haben muss. Im Fall Lucens stand dagegen eher die Möglichkeit der Verwendung von Natururan im Zentrum.

Der durch die Havarie entstandene Schaden ist der Verlust der zusätzlichen einjährigen Betriebserfahrung, aber auch der beim Rückbau der kontaminierten Anlage nötige Mehraufwand. Strahlenschäden sind weder beim Personal noch in der Umwelt entstanden.

Der Unfall wurde in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Das überrascht. Warum war das so?

Ich lebte 1969 nicht in der Schweiz, habe jedoch den Eindruck, dass die Havarie Lucens stark zur Unterstützung der Anti AKW-Bewegung beigetragen hat. Dies allerdings weitgehend durch falsches Verständnis und zum Teil bewusste Fehlinterpretation des Geschehenen. Falsches Verständnis führte zum Glauben, die Havarie hätte sich bei etwas anderem Ablauf zu einer nuklearen Katastrophe ausweiten können. Dazu nötiges Schadenpotential war jedoch gar nicht vorhanden. Unfallabläufe der eingetretenen Art waren im Sicherheitsbericht behandelt worden und die entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen haben funktioniert. Fehlinterpretation ist die oft gehörte Behauptung, es sei die Havarie gewesen, welche zum Abbruch der Eigenentwicklung eines KKW in der Schweiz geführt habe. Gründe dafür waren in Wirklichkeit die unerwartet leichte Erhältlichkeit von angereichertem Uran und die Tendenz zu sehr grossen Leistungen des einzelnen KKW. Dies überstieg die geschäftlichen Interessen der Firma Sulzer, welche sich in der Folge auf Einzelkomponenten und Teilsysteme solcher KKW spezialisierte.

Die Anti AKW-Bewegung entstand Mitte 70er Jahre. Wie haben Sie das wahrgenommen?

Schwierig bei Diskussionen mit Atomgegner waren oft dort mangelnde Fachkenntnisse und Vorurteile. Neben Meinungsverschiedenheiten gab es auch sachliche Übereinstimmungen. Dabei mussten wir darauf hinweisen, dass unsere Rolle als Aufsichtsbehörde die des professionellen Kritikers ist, der die Einhaltung der gesetzlichen Anforderungen überprüft und fordert, nicht aber für oder gegen die Nutzung der Atomkernenergie entscheidet.

Voraussetzung für die Mitglieder der Sicherheitskommission KSA waren gute Fachkenntnisse auf mindestens einem Gebiet der Nukleartechnik. Politische Einstellung wurde nicht nachgefragt und spielte im Allgemeinen keine Rolle. Ausnahmen ergaben sich in den späteren Jahren, als darauf geachtet wurde, dass mindestens ein bis zwei Mitglieder grundsätzlich gegen die Nutzung der Atomkernenergie waren. Fronten innerhalb der Kommission sind dabei nicht entstanden.

Kaiseraugst wurde nicht gebaut, dafür Gösgen und Leibstadt. Beznau und Mühleberg existierten bereits…

Erste Gesuche für die KKW-Standorte Gösgen, Graben, Kaiseraugst, Leibstadt, Rüthi,  und Verbois  wurden  zwischen 1965 und  und 1970 eingereicht. Alle diese Projekte waren ursprünglich für Flusswasserkühlung vorgesehen und mussten auf Kühltürme umgestellt werden. Zusätzliche Probleme ergaben sich für Leibstadt und Kaiseraugst wegen Standortverschiebungen und der Forderung für ursprünglich nicht vorgesehene Notstandsysteme. Der Standort Kaiseraugst war ursprünglich für ein Kohlekraftwerk vorgesehen mit dem Vorteil eines besonders günstigen Hafens für die Brennstofflieferung. Für ein KKW besonders nachteilig war aber das Erdbebenrisiko und die hohe Bevölkerungsdichte.

Welche Bedeutung hatte für Sie der Reaktorunfall von Tschernobyl?

Noch weitgehender als in Fukushima  fehlten in Tschernobyl wichtige bei uns übliche Sicherheitsmerkmale, insbesondere konnten sich gefährliche instabile Zustände einstellen. Zusätzlich lagen schwerwiegende Mängel in dem Bereich vor, der anschliessend weltweit als Sicherheitskultur bezeichnet wurde. Dazu gehören ausreichende Ausbildung des Betriebspersonals und organisatorisch klare Verhältnisse mit Priorität der nuklearen Sicherheit. Abgesehen von vielleicht entsprechend deutlicheren Formulierungen der Vorschriften waren bei uns keine Änderungen notwendig. Als Rechtfertigung unseres Vorgehens erwiesen sich die in der Schweiz vorbereiteten Notfallschutzmassnahmen, welche die zahlreichen bei russischen Kindern aufgetretenen Schilddrüsen-Krebserkrankungen vermieden hätten.

Welche Perspektiven sehen Sie für die Atomenergie in der Schweiz?

Vor dem Fukushima-Unfall 2011 standen einige neue KKW-Projekte an mehreren schweizerischen Standorten in Vorbereitung; Betriebsaufnahmen wären im Laufe der zwanziger Jahre möglich gewesen. Zwar wurde bald klar, dass die in den bestehenden schweizerischen KKW vorhandenen oder nachgerüsteten Sicherheitsvorkehrungen Unfallabläufe wie in den japanischen Anlagen verhindert oder wesentlich gemildert hätten; überdies wurden in den neuen Projekten zusätzliche Sicherheitsstrukturen vorgesehen. Der Schock über das Geschehen im technisch hochentwickelten Land Japan sass tief. Über den von den politisch verantwortlichen Stellen verfügten Abbruch der Projektarbeiten in der Schweiz wurde entschieden, ohne dass sich die für Strombedarfsprognosen und Sicherheitsbeurteilungen zuständigen Fachstellen dazu hätten äussern können. 

Ein heutiger Entscheid für einen KKW-Bau in der Schweiz käme zu spät für das Vermeiden der absehbaren Stromlücke in unserem Land. Die seinerzeit zu optimistischen Annahmen einerseits über den Ausbau zusätzlicher nachhaltiger Stromproduktion sowie Sparaktionen und andrerseits notwendigem Ersatz von Verbrennungsenergie durch Strom sowie Neubedarf von Strom durch Wirtschaftswachstum bedingen dringend den Bau von Gaskraftwerken mindestens für die saisonale Energiespeicherung. Zu untersuchen bleibt, wieweit dies durch Speicherung von importiertem oder selbst produziertem Gas möglich ist.

Zusätzlich sollten schon bald auch die Möglichkeiten späterer Realisierung von Kernkraftwerken aktueller und noch weiter fortgeschrittener Bauart (für Kern-Spaltung und -Fusion) vorbereitet und offengehalten werden. Wir wissen nicht, wann wir sie brauchen würden.

Wie stehen Sie zur Frage des Endlagers – zum Beispiel im Weinland

Um  Hütepflichten künftiger Generationen zu vermeiden, müssen Endlager für nicht weiter verwendbare radioaktive Abfälle errichtet werden. Das Schadenpotential ist aus heutiger Sicht sehr viel geringer als dasjenige von Kernkraftwerken, möglicherweise aber etwas höher als das des ursprüngich verwendeten Urans, was durch geeignete Standortwahl und Gestaltung des Lagers kompensiert werden soll. Die technische Realisierbarkeit solcher Lager ist nachgewiesen worden. Die Opposition im Weinland richtet sich vorwiegend gegen die Sichtbarkeit grosser oberirdischer Bauwerke; wie weit annehmbare Standorte oder aber unterirdische Anordnung für diese gefunden werden können, ist mir nicht bekannt.


Dominik Landwehr

Lucens-Bericht des ENSI
https://www.ensi.ch/de/themen/versuchsatomkraftwerk-lucens

Tobias Wildi: Der Traum vom eigenen Reaktor. Zürich 2003. Online im Volltext unter
https://doi.org/10.3929/ethz-a-004459704

Michael Fischer: Atomfieber. Zürich 2019. Verlag Hier und Jetzt.Hinweis an die Reaktion: Diese Hinweise

Die verlassene Versuchsanlage von Lucens ca 1974. Der Rückbau dauerte viele Jahre. Ein Teil der Stollen wird aber heute zum EInlagern von Kulturgütern wieder genutzt. Foto ETH-Bildarchiv/Comet.