Die geschichtlichen Fakten und die Häute der Zwiebeln – Gedanken zur Kontroverse um Günter Grass

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„Die Stunde der Pharisäer“ ist angebrochen, schreibt Manfred Papst in der NZZ am Sonntag zur Kontroverse um Günter Grass und sein spätes Geständnis, Mitglied der Waffen SS gewesen zu sein. Ist das Buch und dieses Eingeständnis nicht einfach ein weiterer Beleg für den schwierigen Umgang mit der Erinnerung?


Wissen wir nicht längst, wie unzuverlässig, wie weich und veränderbar, ja wie formbar die Erinnerung doch ist. Dann wäre die Kontroverse freudianisch zu deuten – als Widerstreit zwischen dem Über-Ich, dem Es und dem Ich. So liest sich das Buch von Günter Grass mit ganz anderen Augen. Und das Bild der Zwiebel ist mit Bedacht gewählt, eindrücklich und unmittelbar klar:
„Die Erinnerung liebt das Versteckspiel der Kinder. Sie verkriecht sich. Zum Schönreden neigt sie und schreckt gerne, oft ohne Not. Sie widerspricht dem Gedächtnis, das sich pedantisch gibt und zänkisch rechthaben will. Wenn ihr mit Fragen zugesetzt wird, gleicht die Erinnerung einer Zwiebel, die gehäutet sein möchte, damit freigelegt werden kann, was Buchstab nach Buchstab ablesbar stellt: selten eindeutig, oft in Spiegelschrift oder sonstwie verrätselt.
Unter der ersten, noch trocken knisternden Haut findet sich die nächste, die, kaum gelöst, feucht eine dritte freigibt, unter der die vierte, fünfte warten und flüstern. Und jede weitere schwitzt zu lang gemiedene Wörter aus, auch schnörkelige Zeichen, als habe sich ein Geheimniskrämer von jung an, als die Zwiebel noch keimte, verschliessen wollen. Schon wird Ehrgeiz geweckt: dieses Gekrakel soll entziffert, jener Code geknackt werden. Schon ist widerlegt, was jeweils auf Wahrheit bestehen will, denn oft gibt die Lüge oder deren kleine Schwester, die Schummelei, den haltbarsten Teil der Erinnerung ab; niedergeschrieben klingt sie glaubhaft und prahlt mit Einzelheiten, die als fotogenau zu gelten haben: Das unter der Julihitze flimmernde Teerpappendach des Schuppens… auf dem Hinterhof unseres Mietshauses roch bei Windstille nach Malzbonbon… der abwaschbare Kragen meiner Volksschullehrerin, des Fräulein Spollenhauer, war aus Celluloid und schloss so eng, dass ihr Hals Falten warf… Die Propellerschleifen der Mädchen sonntags auf dem Zoppoter Seesteg, wenn die Kapelle der Schutzpolizei muntere Weisen spielte … Mein erster Steinpilz … Als wir Schüler hitzefrei hatten…Als meine Mandeln schon wieder entziindet waren… Als ich Fragen verschluckte…
Günter Grass. Beim Häuten der Zwiebel. Göttingen 2006. Steidl. S.8/9
Ein ganz anderer Titel kommt mir beim Lesen dieser Stelle in den Sinn: Der Schweizer Historiker Philipp Sarasin beschäftigt sich in einer seiner Publikationen mit einer ganz wesentlichen Frage der Geschichtswissenschaft – der Wahrheit der so genannten Fakten. Denn, so schreibt er, auch die sogenannten Fakten führen kein Eigenleben, jenseits von Kritik und Reflexion. Denn auch sie, haben ?immer schon Masken getragen, auf falsche Namen gehört und in erborgten Sprachen, neue Geschichten erzählt?.
Sarasin, Philipp: Geschichswissenschaft und Diskursanalyse. Frankfurt 2003. Suhrkamp. S.8.

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