Panoramafilme im Circarama-Format – ein Publikumsmagnet der Expo 64

Ein 360-Grad Film der SBB war eine der Hauptattraktionen der Expo 64. Er wurde in einem aufwendigen Spezialverfahren gedreht und in einem eigenen Pavillon abgespielt. Ausschnitte aus der Produktion sind in diesen Tagen in Bern und Luzern zu sehen.
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Bild: SBB Historic


«Rund um Rad und Schiene» hiess die Produktion, welche die SBB für die Expo 64 im so genannten Circarama Format produzieren liess: Neun 35mm-Projektoren ermöglichten dem Publikum in einem eigenen Pavillon eine spektakuläre Rundumsicht: Er hatte 26.5 Metern Durchmesser und bot Platz für 1500 Gäste. Die rundum angeordneten Leinwände waren sieben Meter hoch und hatten eine Länge von 90 Metern.
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Das Panoramakino der Exp 64 von aussen (oben) und von innen (unten): Bild: SBB Historic
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Die Bilder der Produktion von damals erinnern unwillkürlich an die Aufnahmefahrzeuge von Google Street View. Die riesigen Apparaturen von damals geben aber eine Ahnung davon, wie schwerfällig, aufwendig und teuer dies vor 50 Jahren gewesen sein muss. Gefilmt wurde mit einer abenteuerlich anmutenden Traube von neun 35mm Kameras. Für mobile Aufnahmen montierte man diese Konstruktion auf ein spezielles Schienenfahrzeug, eine so genannte Monodraisine oder auf ein Auto. In einer SBB Publikation aus dem Jahre 1963 heisst es: «Die SBB sind jetzt auch Filmstar geworden. Zivilisten wandern dem Schienenstrang entlang, messen ab, schreiben auf Schwellen große Zahlen, und rechnen nachher im Büro Fahrgeschwindigkeiten und Bremswege aus unter Berücksichtigung noch vieler anderer Faktoren. Denn die Circarama-Aufnahmen dulden keine oberflächlichen Vorbereitungen. Jede Kleinigkeit muss bis auf die Sekunde genau geprüft werden.» Der Film zeigte Trolleybusse, Strassenbahnen und Eisenbahnzüge vor malerischen Kulissen wie etwa dem Berner Zytgloggeturm, der Zürcher Quaibrücke oder dem Jungfraupanorama auf der Kleinen Scheidegg.
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Aufnahmen mit der 360 Grad Kamera aus einem Auto. Bild: SBB Historic
Die Schau muss das Publikum stark beeindruckt haben. 3.8 Millionen Zuschauer haben sich gemäss Martin Cordes von SBB-Historic die rund halbstündige Produktion angesehen. Teilweise waren das bis zu 25 000 Personen pro Tag! Der SBB-Pavillon mit dem Panoramakino taucht in vielen Erinnerungen an die Landesausstellung von 1964 auf. Wenig Gnade fand die aufwendige Produktion beim Filmhistoriker Felix Aeppli, der 1994 dazu folgendes notierte: «Inhaltlich bot der von den SBB, den Schweizer Privatbahnen und der schweizerischen Industrie für Eisenbahnmaterial in Auftrag gegebene Film wenig mehr als eine Anhäufung modernster Verkehrsmittel in Kombination mit touristischen Sehenswürdigkeiten.» Gut möglich, dass das Publikum aus einer zeitlichen Distanz von 50 Jahren noch einmal neu urteilt, die von Memoriav, SBB-Historic und weiteren Partnern ermöglichten Präsentationen in Bern und Luzern werden das zeigen.
Realisiert wurde die Auftragsproduktion des SBB Films damals von Ernst A. Heiniger. Der Fotograf und Regisseur war damals die erste Adresse in der Schweiz für ein derartig aufwendiges Projekt: Heiniger hatte 1952 Walt Disney in den USA kennengelernt und mehrere Filme für ihn gedreht, zwei davon wurden 1957 und 1958 mit einem Oscar ausgezeichnet. Heiniger war begeistert vom Panoramasystem namens Circarama, das Walt Disney anfangs der 50er Jahre zusammen mit seinem Zeichner Ub Iwerks entwickelt hatte und ihm gelang es auch bei Disney eine Lizenz für die Schweizer Produktion zu erhalten. Walt Disney hat aus diesem Grund die Expo 64 selber auch besucht.
Das Circarama-Verfahren ist eine Weiterentwicklung des Cinerama-Formats: Zunächst wurden dafür elf 16mm-Kameras eingesetzt, später neun 35mm-Kameras. Die erste Circarama Produktion war der Film «A Tour Of The West», für den 1955 eröffneten Disneyland-Themenpark Tomorrowland im kalifornischen Anaheim.
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Eine Darstellung der Cinéorama Projektion an der Weltausstellung von Paris um 1900. Bild: Wikimedia
Der Traum vom 360-Grad Film ist aber wesentlich älter. Kulturhistorisch knüpfen alle geschilderten Verfahren an der Panoramamalerei an, die vor allem im 19. Jahrhundert sehr populär war und auch in der Schweiz ihre Spuren hinterlassen hat. Die Idee vom Panorama mit bewegten Bildern lag denn auch nahe: Bereits um 1897 liess der Ingenieur Raoul Grimoin-Sanson sein Cinéorama patentieren. Es erlebte seine erste öffentliche Vorführung an der Weltausstellung von 1900 in Paris: Sein Panorama simulierte einen Flug im Heissluftballon über Paris. Dafür benutzte er zehn 70mm Projektoren. Dem Filmexperiment war kein langes Leben vergönnt: Die Polizei schloss die Attraktion nach nur drei Tagen, weil die Projektoren extreme Hitze entwickelten. Mitten im Kalten Krieg entstand 1959 auch in Moskau ein Panoramakino, das auf der französischen 70mm Technologie basierte: Das Krugovaya Kinopanorama in Moskau.
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Das Krugovaya Kinopanorama in Moskau. Bild: Wikimedia
Das Circarama Verfahren von Disney, teilweise auch Circle-Vision 360 genannt, wurde im 20.Jahrhundert vorwiegend in den Disney-Themenpark verwendet, von 1992 bis 2004 auch im Disneyland Paris. Es hat sich jedoch nie auf breiter Front durchsetzen können. Grund dafür dürfte nicht nur der grosse Produktionsaufwand sein, sondern auch die Abspielbedingungen. Ernst Heiniger entwickelt ein vereinfachtes Panorama-Format, das Swissorama, es wurde im Verkehrshaus Luzern 1984 bis 2004 benutzt. Der Traum vom kompletten Eintauchen in gefilmte Realitäten ist aber lebendiger denn je, davon zeugt die Popularität der Imax-Theater und der 3D-Filme.
12./13.September 2014 Bundesplatz Bern (www.memoriav.ch/expo64); Sonderausstellung Landi 39/Expo 64 Verkehrshaus Luzern bis Ende 2014 (www.verkehrshaus.ch)
Dieser Text erschien in gekürzter Form in der Neuen Zürcher Zeitung vom 4.September 2014 (Nr.204) auf Seite 54.