Beim Wunderrabbi von Sadagora – Reisenotizen Ukraine 6

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Eine Viertelstunde Autofahrt vor Czernowitz – die Industrie-Ruinen sind auch bei Regen keine Augenfreude – liegt der Vorort Sada Gora, auch Sadgora genannt. Hier lebte einst ein chassidischer Wunderrabbi, von seinen Anhänger auch Zaddik genannt. Für uns war der Zaddik nicht mehr zu sprechen. Wir kamen einige Jahrzehnte zu spät. Uns bleibt die Aufgabe, die Spuren zu deuten, Spuren im Gelände, Spuren in der Literatur.


Das Haus des Wunderrabbi von Sadagora liegt gleich neben der Strasse und ist einigermassen erhalten. Ein Backsteinbau mit Türmchen und Erkern, der mehr an einen Bahnhof als an eine Synagoge erinnert. Der Bau musste denn auch mehr profanen als sakralen Bedürfnissen genügen und vor allem Raum für den nicht abreissenden Strom von Besuchern bilden, die der Rabbi empfing.
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Leopold von Sacher Masoch besuchte Sadagora 1857 und beschreibt in seinem Buch „Geschichten aus Galizien“ das das kleine Dorf und das Leben am Hof des Wunderrabbis ganz nüchtern
“Sadagora war damals eine kleine Stadt, die fast nur von Juden und Armeniern bewohnt war. Enge Strassen voll Schmutz, Strassen mit dunklen Winkeln, in die niemals ein Sonnenstrahl drang. Kleine Häuser, aus Holz erbaut, mit Kalk beworfen, mit Schindeln gedeckt… Mitten in der kleinen Stadt ein grosser Platz und auf diesem das Haus des Zadik… Vor dem Haus stand eine Menge von Menschen, die sich alle still verhielt oder ganz leise miteinander sprachen, und eine Anzahl Wagen aller Art, Schlitten mit kostbarer Decken von Pelzwerk….
Endlich wurde ein grosser, schwerer Vorhang beiseite geschoben, und wir traten in das grosse Zimmer, in welchem der Zadik die Bittsteller zu empfangen pflegte. An der Wand gegenüber dem Eingang stand ein alter türkischer Diwan, auf dem der Zadik lag. Neben ihm befand sich ein kleines Tischen, auf dem ein in Leder gebundenes Buch lag. An den anderen Wänden waren noch einige Stühle, ein kleiner Schrank, ein Ofen in dem ein mächtiges Feuer brannte, sonst nichts. Der Zadik war ein kleiner, magerer Mann mit weissem Haar und langem weissem Barte. Sein Gesicht war sanft und intelligent….
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Es klingelte, die Wächter stürzten herein, und der Zadik befahl, die Leute der Reihe nach einzulassen, jedes Mal zehn zugleich. Es war interessant, die Bittsteller zu beobachten, welche jetzt vor Ehrfurcht eintraten, den Zadik demütig grüssten und in der Nähe der Türe stehen blieben. Da war ein reicher Jude im Pelz mit seinem kranken Kinde, das erbärmlich schrie. Ein anderer im geflickten Talar, welcher unausgesetzt seufzte, ein dritter, reich gekleidet, sehr dick, mit einem roten Gesicht, das wie der Vollmond glänzte. Zwei polnische Bauern in ihren Schafspelzen, eine Armeniern, ein Soldat in weisser Uniform, ein Mennonit, ein deutscher Kolonist und eine hübsche, furchtsame Frau in jüdischer Tracht, die sich hinter einer anderen versteckte.“
Das Wirken der chassidischen Wunderrabbis wird auch heute nicht überall gleich beurteilt. Die Historikerin Irene Stratenwerth beispielsweise sieht diese als Beleg für Rückständigkeit.
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Weiter geht’s zum jüdischen Friedhof, wo auch das Grab des Wunderrabbis liegt. Der Regen hat nicht nachgelassen. Die Grabsteine sind versteckt im nassen, hohen Gras, Holundersträuche wachsen wild und Äste beugen sich unter der Last der dunklen Beeren. Niemand pflückt sie, keiner mäht das Gras. Anders als auf dem Czernowitzer Friedhof verstehen wir die Grabinschriften – sie sind in Hebräisch – nicht mehr und begnügen uns mit dem Bewundern der Symbolik und der Ornamente. Fische sind hier öfters zu sehen. Das Grab des Wunderrabbis ist von weit zu sehen – es liegt in einem Haus mit blauem Dach.
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