Die Zeit ist ein bisschen ungewöhnlich: Sonntagabend 21 Uhr. Und aus der halben Stunde wird ein langes Gespräch. Nächtliches Treffen beim 89jährigen israelischen Friedensaktivisten Uri Avnery in Tel Aviv.
Seit dem Tod seiner Frau habe er die Zeit nicht mehr so ganz im Griff, meint Uri Avnery bei unserem Treffen einmal. Nur eine halbe Stunde bräuchten wir, haben wir ihm versichert. Es wurde dann wesentlich mehr. Um 21 Uhr haben wir die Klingel an seiner Wohnung im Stadtkern von Tel Aviv betätigt. Um 23 Uhr sind wir wieder zur Türe raus. Und in den zwei Stunden haben wir einen Menschen getroffen, der alles andere als ein alter Mann ist. Keine Minute hat er uns aus seinem reichen Leben erzählt, auch nicht von seinem Treffen mit dem Palästinenserführer Yasir Arafat 1982 im belagerten Beirut. Avnery soll der erste Israeli gewesen sein, der dem Palästinenserführer die Hand geschüttelt hat! – Ihn beschäftigt die Gegenwart und die Zukunft und darüber will er mit uns reden.
Was für ein Leben! Uri Avnery gehört zur ersten Siedlergeneration. Er kam 1933 kurz nach der Machtergreifung Hitlers nach Palästina, 15 Jahre vor der Gründung des Staates Israel. Er hat im ersten israelisch-arabischen Krieg 1948 gekämpft, wurde zweimal verwundet, das zweite Mal schwer. Avnery war insgesamt zehn Jahre in der Knesset, dem israelischen Parlament. Der Mann weiss, wovon er redet. Was gilt seine Stimme in diesem zerrissenen Land? – Ich weiss es nicht.
Avnery ist ein Kritiker und hat doch eine differenzierte Sicht. Zwei Wunder gehören zu Israel, erzählt er uns. Das Land hat es fertig gebracht, eine tote Sprache, das Hebräische, zum Leben zu erwecken. Das zweite Wunder ist die Demokratie. Die zionistische Bewegung, so hält er fest, war immer eine demokratische Bewegung. Anders im jüdischen Städtle, da war keine Demokratie.
Demokratie braucht Zeit, sagt er und meint damit die Bewegungen in den Nachbarstaaten. Es sei gefährlich, zu viel vom arabischen Frühling zu erwarten. Demokratie entsteht nicht über Nacht. Sie braucht Zeit.
Demokratiefeindlichkeit sieht er auch in Israel immer mehr aufkommen. Viele neue Gesetze sind für ihn ein Anschlag auf die Demokratie. Gerade in diesen Tagen wurde ein Gesetz erlassen, welches öffentliche Aufrufe zum Boykott von bestimmten israelischen Produkten – etwa solchen aus den besetzten Gebieten – mit einer Gefängnisstrafe von bis zu drei Jahren belegt. Avnery braucht harte Worte und vergleicht diesen Akt mit dem Ermächtigungsgesetz in Deutschland, der Abschaffung von demokratischen Rechten. Wir streifen im Gespräch auch die neue Praxis der Schweizer Grossverteiler Migros und Coop, Agrarprodukte aus den besetzten Gebieten als solche zu kennzeichnen. Avnery begrüsst diese Praxis ausdrücklich – anders als etwa der israelische Botschafter in der Schweiz, der diese Praxis scharf kritisierte.
(Im Vordergrund der Radiournalist Martin Heule. Wer genau hinsieht sieht rechts im Bild ein Foto von Uri Avnery mit Yasir Arafat)
Das Unglück hat für Uri Avnery 1967 angefangen, mit der Eroberung der Gebiete, die bis heute besetzt werden. Das war für ihn der Anfang einer grossen Ungleichheit im Lande. Uri Avnery vergleicht die Herrschaft Israels über das Westjordanland mit der Kolonisierung Indiens durch England.
Immer wieder weist er darauf hin, dass es nur eine Lösung gibt: Die Zweistaatenlösung. Die Aussage Israels, es gäbe dafür keinen Verhandlungspartner, weist er zurück: Die israelische Regierung, so führt er aus, will gar keinen Frieden mit den Palästinensern, weil sie dann die Siedlungen zurück geben müsste.
Und dann braucht er dieses wahnsinnige Bild. Uri Avnery vergleicht den Staat Israel mit der Titanic. Währenddem das Schiff auf den Eisberg zusteuert, streiten sich oben die Passagiere der ersten und der vierten Klasse. Nur über den Eisberg spricht keiner. Wie soll das gut gehen: Es gibt heute in Israel und Palästina 5.5 Millionen Israeli und 6 Millionen Araber…
Israel ist für ihn ein Apartheitsstaat – mit separaten Strassen für Juden und Araber.
Was wird in 50 Jahren sein? – Keiner will darüber reden, keiner will sich darüber Gedanken machen, sagt er. Die arabische Welt sei bereit, Israel zu anerkennen. Voraussetzung dafür sei, dass drei wichtige Fragen geregelt sind: Ost-Jerusalem, der Gaza-Streifen und das Westjordanland muss den Palästinensern gehören. Es muss eine Lösung für die palästinensischen Flüchtlinge in den Nachbarländern geben. Die Frage der grenznahen Siedlungen liesse sich mit einem Gebietsabtausch regeln. Damit verzichten die Palästinener auf 78 Prozent ihres Gebietes.
Es sieht zur Zeit nicht danach aus, als liessen sich diese Fragen regeln. Interessanterweise bleibt Uri Avnery trotzdem Optimist: Ich habe in den letzten Jahren so viele unvorhergesehen Ereignisse erlebt. Niemand hat 1989 den Fall der Berliner Mauer vorausgesehen. Avnery benutzt auch das Bild des schwarzen Schwanes – es gibt immer wieder Überraschungen und Zufälle. Und das wünscht er sich für sein Land und das Land der Palästinenser.
Hier gehts zu den aktuellen Kommentaren und Stellungsnahmen von Uri Avnery
Fotos: Dominik Landwehr – dlandwehr at bluewin.ch – Tel Aviv 4.Oktober 2012