Die verlorene Unschuld oder die Schweiz ist keine Insel mehr

Gedanken zur Schweiz an einem kalten Wintermorgen im Januar 2012. Der Text erscheint im Tössthaler vom 25.Februar 2012 in der Rubtik „Standpunkt“


Ich bin 1958 geboren. Die Schweiz der 60er und 70er Jahre kannte klare Verhältnisse – aussen und innen. Es gab die Bösen und die Guten. Russland und die DDR und der ganze Rest der Kommunisten gehörte zu den Bösen. Die Amerikaner flogen zum Mond und wir mochten sie. Aber Amerika war weit weg. Und die Deutschen ärgerten uns vor allem am Skilift. Zwar gab es auch in der Schweiz Spannungen. Zum Beispiel zwischen den Katholiken und Protestanten.
Wirtschaftlich herrschte Hochkonjunktur, die Arbeitslosenquote war bei nicht wahrnehmbaren 0.2 Prozent. Es gab so etwas wie Wohlstand und für einfachere Arbeiten hatte man Saisonnier aus dem Süden, die bald die Tschinggen genannt wurden. Die Schweiz hatte eine Vielzahl von grossen und kleinen Parteien. Wenn es drauf an kam gab es einen Bürgerblock und mit dem Landesring sogar eine Zeitlang so etwas wie eine dritte Kraft. Wir hatten mit der Swissair die beste Airline der Welt, die direkteste Demokratie und eine starke Armee. Und natürlich: Die Banken. Sie waren diskret und agierten im Hintergrund, so genau wollte es bis in die 70er Jahre noch niemand wissen.
Fortschritt war, wenn wir nicht mehr am Sonntagmorgen zur Kirche mussten, sondern am Samstagabend und wenn die Beichte abgeschafft wurde. Und wenn der Vater jedes Jahr etwas mehr verdiente und wir uns ein Auto und Ferien im Ausland leisten konnten. Die Mondlandung erfüllt uns mit Optimismus und zur Weihnacht kriegten wir das Modell der Apollo-Raumfähre. Die Mutter stand am Herd und wer nicht ins Militär wollte, war ein Drückeberger.
Die klaren Verhältnisse gefielen schon damals nicht allen: Der Staatsrechtler Max Imboden benannte schon 1964 ein „Helvetisches Malaise“. Paul Nizon sprach 1970 vom „Diskurs in der Enge“. Max Frisch machte seinem Unmut immer wieder Luft, so 1974 in seinem Dienstbüchlein. Friedrich Dürrenmatt provozierte noch 1990 bei der Verleihung des Gottlieb Duttweiler Preises mit dem Satz „Die Schweiz ist ein Gefängnis“
Trotzdem: Ich wünsche mir manchmal diese Welt zu zurück: Klein und übersichtlich. Ohne Handy und Internet, wo der grösste Wunsch eines Jungen ein Kassettenrekorder war, wo Liebesbriefe mit der Post verschickt wurden…
Es gab so etwas wie Gewissheiten. Dazu gehörte vor allem das Wissen, dass uns niemand reinreden konnte. Das ist in einer globalisierten Welt nicht mehr so. Hier reden viele mit. Manchmal übt der Stärkere Nachsicht. Aber nicht immer. Das ist gerade in diesen Tagen fühlbar: Im Steuerstreit mit der EU und den USA vergeht kaum eine Woche ohne Paukenschlag. Mir scheint manchmal, die Schweiz steht mit dem Rücken zur Wand. Auch im Fluglärmstreit sitzt Deutschland am längeren Hebel, auch wenn die wichtigsten Airlines am Zürcher Flughafen in deutscher Hand sind. Unsere Abstimmungen werden im Ausland mit Argusaugen verfolgt und entsprechend kommentiert, nicht nur wenn es um Minarette geht.
Die Dinge sind komplizierter geworden. Die Hälfte unserer Exporte gehen nach Deutschland. Unser Finanzplatz spielt in der Top Liga. Da wird mit harten Bandagen gekämpft. Die Schweiz ist in wichtigen internationalen Gremien dabei. Aber die Spielregeln werden nicht (mehr) von uns gemacht. Wir sind nicht in der EU. Wäre es besser, wenn wir dabei wären? – Wir könnten wohl etwas mehr mitreden. Es gibt kein Schwarzweiss mehr, dafür Grau in Grau. Schlechte Lösungen und schlechtere…
Die wichtigste Tatsache bleibt: Die Schweiz hat in den letzten Jahrzehnten einen Souveränitätsverlust erlitten. Oder einfacher gesagt: Wir können nicht mehr allein entscheiden, haben weniger zu sagen. Das ist schmerzhaft. Und das macht die kleinen Entscheidungen in unserer direkten Demokratie manchmal etwas lächerlich: Wir entscheiden über Bagatellen. Die wichtigen Dinge müssen wir annehmen oder autonom nachvollziehen wie im Fall des EU Rechts.
Was tun? – Die Verhältnisse lassen sich nicht ändern. Wir sind ein kleines Land mitten im grossen Europa. In einem Europa, das seine führende Rolle in den nächsten Jahrzehnten wohl einbüssen wird. Unsere Vergangenheit interessiert da draussen keinen. Und deshalb nützen auch Durchhalte- und Abwehr-Parolen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs oder des Kalten Krieges wenig. Stattdessen brauchen wir Dialog, gute Beziehungen, Verhandlungen. Das heisst allerdings nicht, dass man gleich einknicken muss, wenn der Wind mal etwas rauher weht. .. Das alles tönt ziemlich bescheiden. Es entspricht dafür der Realität. Ich fürchte, die Kränkungen der letzten Jahre werden nicht die letzten gewesen sein.
Der Text erschien im Tössthaler vom 25.2.2012
Adresse des Autors: dlandwehr@bluewin.ch – www.sternenjaeger.ch

Kommentar hinterlassen