Der Walfisch und die Schweiz: Melnitz.

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Onkel Melnitz meldet sich immer dann, wenn man ihn am wenigsten brauchen kann. Dabei ist er doch tot. Schon lange tot. Und eigentlich sollte er schweigen. Tut er aber nicht, jedenfalls nicht im Roman „Melnitz“ von Charles Lewinksy.
Statt einer Besprechung oder eigener Gedanken ein Zitat aus dem letzten Kapitel des Buches, überschrieben mit 1945.


„Das Erzählen machte ihn lebendig. Neue Geschichten hatte er mitgebracht, viele neue Geschichten, jede einzelne so tödlich lebendig, dass die alten dagegen verblassten. In der modernen Zeit wird alles größer und besser und effizienter. Sechs Millionen neue Geschichten, ein dickes Buch, aus dem man eine Generation lang würde vorlesen können, ohne sich ein einziges Mal zu wiederholen. Geschichten, die nicht zu glauben waren, schon gar nicht hier in der Schweiz, wo man all die Jahre auf einer Insel gelebt hatte, auf trockenem Boden mitten in der Überschwemmung. Geschichten, die nicht in die Köpfe wollten, nicht hier, wo die Vorräte nie ausgegangen waren. Man hatte zum Kochen sein Feuer angezündet und nicht gemerkt, dass man es auf dem Rücken eines Riesenfisches tat, der sich nur einmal im Wasser wälzen musste oder mit den Flossen schlagen, und schon war man erdrückt und erstickt und ertrunken. Man hatte es nicht gewusst, hier in der Schweiz. Man erfuhr es erst jetzt und hätte es lieber nie erfahren.“
Aus: Melnitz. Charles Lewinksy. Zürich 2006. Nagel und Kimche. S.761
Dem gibt es nichts beizufügen. Ein anderer soll das Wort haben. Ein anderer Schriftsteller: Edgar Hilsenrath.
„Und der Wind da draussen, der flüsterte dem Rebben etwas in das Ohr. Und der Rebbe nickte und sagte: ?Ja, du hast vollkommen recht. Die Gojim sind dumm. Sie plündern jetzt unsere Häuser. Und sie graben in unseren Gärten. Und sie glauben, dass wir alles zurückgelassen haben, das wir besassen. Und sie lachen sich ins Fäustchen. Dabei wissen sie nicht, dass wir das Beste mitgenommen haben.“ ?Was ist das Beste?“, fragte der Wind. Und der Rebbe sagte:“Unsere Geschichte. Die haben wir mitgenommen.“ Und der Wind sagte: ?Aber Rebbe. Das kann doch nicht sein. Die Geschichte der Schtetljuden ist zurückgeblieben.“ ?Nein“, sagte der Rebbe. ?Du irrst dich. Nur die Spuren unserer Geschichte sind zurückgeblieben“
Edgar Hilsenrath in: Jossel Wassermanns Heimkehr
Rezensionen zum Melnitz – u.a. in NZZ und Weltwoche – sind auf der Seite des Autors zu finden.
Beiträge von Radio DRS zum Thema Melnitz

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