Wikipedia – Fluch oder Segen

Es ist schon eine Zeitlang her, dass ich diesen Artikel geschrieben habe – er erschien zuerst in der NZZ und dann ind er Historiker-Zeitschrift „Traverse“. Die Aussagen der Tagung vom 20.April 2007 dürften aber auch 3 Jahre später unverändert wahr sein. Also: Lesen.


Wikipedia in den Wissenschaften. Zur Praxis und Theorie eines aktuellen Phänomens.
Tagung vom 20. April, 2007, Universität Basel, Historisches Seminar Dr. Peter Haber und
Institut für Medienwissenschaft, Prof. Dr. Christoph Tholen.
Wikipedia in den Wissenschaften: Zitierverbot wenig sinnvoll
Die freie Enzyklopädie „Wikipedia“ spielt auch in den Geisteswissenschaften eine immer grössere Rolle. Eine Tagung, die kürzlich in Basel stattfand, diskutierte die Problematik dieses Phänomens. Zitierverbote – so lautet eine vorläufige Bilanz – sind aber kein Weg um damit umzugehen.
Peter Haber, Historiker und Organisator der Tagung am Institut für Medienwissenschaft, befasst sich seit längerem intensiv mit Möglichkeiten und Grenzen der Neuen Medien für die Geschichtswissenschaft und ist auch einer der Initianten der Historiker-Plattform Histnet. Die Tagung vom vergangenen April war Teil einer Lehrveranstaltung am Institut für Medienwissenschaft in Basel. Leitfragen für Tagung und Lehrveranstaltung waren: Darf man aus Wikipedia zitieren? – Was ist allenfalls dabei zu beachten? – Wie stellt man als Dozent fest, ob unerlaubterweise aus der Enzyklopädie abgeschrieben wurde? – Soll man als Wissenschafter selber für Wikipedia Texte verfassen?
Die Historikerin Maren Lorenz aus Hamburg, hat selber offensichtlich einige Erfahrungen als Autorin gemacht und dabei gelernt: „Finger weg von Wikipedia – die eigene Zeit ist mit einem Spaziergang besser angelegt.“ Der Grund ist einfach: Ergänzungen, die man mit viel Zeit und Energie angebracht hat, sind möglicherweise schon innert Sekunden wieder verschwunden. Maren Lorenz:“ Die Wikipedia – am Beispiel der deutschen Version – ist ein instabiles Referenzobjekt. Die Lemmata sind fluid und ständig in Bewegung. Täglich werden bis zu 500 Artikel neu angelegt und 200 Löschanträge gestellt“. Aus inhaltlicher Sicht, so die Referentin, dominiert eine sehr traditionelle, männliche Geschichtsauffassung, die politische und militärische Prozesse ins Zentrum rückt und kaum Interesse an Fragen von Gender- oder Mentalitätsfsforschung zeigt.
Problematisch, so Maren Lorenz, ist die riesige Bedeutung, welche die Online-Enzyklopädie gerade in Politik und Wirtschaft heute hat, umso mehr, als da „gelogen und beschissen wird, dass sich die Balken biegen.“ Und letztlich ist total unklar, nach welchen Kriterien die Beiträge verfasst wurden und nach welchen Qualitätskriterien die Einträge – falls überhaupt – überprüft wurden. Unklar ist auch die Autorschaft: Zwar lässt sich die Versionsgeschichte eines Artikels nachvollziehen – die meisten Autoren treten dort aber mit einem Pseudonym auf. Zitierbar ist das Nachschlagewerk damit nicht – nur ändert dies nichts an der wirklichen Bedeutung und Beliebtheit.
Der Schweizer Historiker und Hochschul-Didaktiker Jan Hodel plädierte an der Basler Tagung für einen pragmatischen Umgang mit dem neuen Phänomen. Zwar hält auch er Wikipedia nicht für zitierfähig. Verbote, wie sie das amerikanische Middlesbury College in Vermont kürzlich ausgesprochen hat, betrachtet er aber als „wissenschaftlich fragwürdig, didaktisch unsinnig und kaum durchsetzbar“. Wikipedia ist für ihn auch weniger eine Enzyklopädie, als eine Idee, die Hodel als „wissenssoziologisch interessant“ einstufte. Tatsächlich wird Wissen hier ja verhandelt. Recht erhält in der Regel jener Autor oder jene Autorin, die den längeren Atem hat. Hodel wies auf eine andere Tendenz hin, die er bei Wikipedia beobachtet: Die Fetischisierung der Fakten nach Zusammenhängen und Prozessen wird nicht gefragt. Letztlich aber ist Wikipedia einfach eine gesellschaftliche Tatsache, mit der es zu leben gilt: „Viele Dozenten schimpfen über Wikipedia, dabei benutzen sie das Online-Nachschlagewerk selber.“ Wichtig ist deshalb ein medien- und quellenkritischer Umgang und gerade hier könnten die Dozenten viel von ihrem Wissen an die Studierenden weitergeben. Dabei kann es, so der Referent, durchaus sinnvoll sein, selber Artikel in Wikipedia zu verfassen um so – im Sinn einer handlungsorientierten Medienpädagogik – Einsicht in die Produktions- und Konstruktionsprozesse von Wikipedia-Wissen zu erhalten.
Wikipedia ist bei weitem nicht das einzige, grössere Online-Nachschlagewerk, das sich auf dem Internet kostenfrei konsultieren lässt. So ist etwa das Historische Lexikon der Schweiz – als durchaus traditionelles dreisprachiges Lexikon – bereits heute zu mehr als 50 Prozent über das online zugänglich. Der Vergleich der beiden Nachschlagewerke, den die Basler Tagung unternahm, war deshalb auch besonders fruchtbar und zeigte, dass es neben klaren Unterschieden auch Berührungspunkte gibt. Andreas Ineichen und Susanne Schär Pfister vom Historischen Lexikon der Schweiz beschrieben den langen Weg, den ein Eintrag im Historischen Lexikon zu durchlaufen hat. Ein Lemma – von einem der rund 2500 freien Vertrags-Autoren verfasst – durchläuft zehn Schritte bis zu seiner Publikation, dazu gehören wiederholte Kontroll- und Feedback-Schleifen. Weil Korrekturen und Aktualisierung Arbeit bedeuten und damit Zeit und Geld kosten, müssen sie – anders als bei Wikipedia – priorisiert werden. Konkret: Nicht alle können umgesetzt werden. Das Historische Lexikon der Schweiz ist damit – gewollt oder nicht – ein langsames Medium. Die Lexikon-Redaktoren wiesen darauf hin, dass allein die Existenz von Wikipedia, die Lexikonredaktion unter Druck setzt. Eine höhere Aktualisierungsrate wäre zwar einerseits wünschbar, erzeugt aber letztlich auch eine Dynamik, die kaum mehr als konstruktiv bezeichnet werden kann. Interessant befanden die Referenten die Diskussions-Möglichkeit, die Wikipedia bei jedem Artikel bietet; genau diese Diskussion würde eigentliche auch die von allen Seiten geforderte, kritische kritische Rezeption ermöglichen.
Die lebhafte Diskussion zeigte das grosse Bedürfnis, gerade auch in Kreisen der Geisteswissenschafter, über das Phänomen Wikipedia zu diskutieren. Georg Christoph Tholen, Leiter des Instituts für Medienwissenschaft wies auf ein Phänomen hin, das er „gespreizte Gegenwart“ nennt. Erscheinungen der Gegenwart werden in grösster Ausführlichkeit analysiert und beschrieben und die historische Dimension droht darin mehr und mehr verloren zu gehen. Lebhafter Ausdruck dieses Phänomens ist das Internet, das eine Fülle von Informationen zur Gegenwart bereit hält währenddem historisches Wissen und Prozesse sehr viel weniger Raum beanspruchen.
Die Basler Tagung war eine Einladung zu einer kritischen Beobachtung und Benutzung der Online Enzyklopädie Wikipedia. Ohne Aufregung betrachtet, ist Wikipedia letztlich eine von zahlreichen Internet-Quellen und kann, mit der nötigen Distanz und Kritik betrachtet, durchaus nützlich sein. Gerne hätte man aus berufenem Mund anhand konkreter Beispiele erfahren, wie denn eine solche kritische Nutzung aussehen könnte. Kaum diskutiert wurde auch die Frage, wie es überhaupt möglich ist, mit derart geringen Kosten ein so grosses Werk zu schaffen. Wikipedia – verschiedentlich ausgezeichnet – gilt als eines der Vorzeigeprojekte des so genannten Web 2.0, bei dem Benutzerinnen und Benutzer den Wert eines Projekts erst erschaffen.
www.wikipedia.ch
www.hls.ch
www.histnet.ch
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