Warum lesen wir – oder was ist Bildung

Was ist Bildung? – Ein kluger Aufsatz in der NZZ am Sonntag vom 6.November aus der Feder des Philosophen Peter Bieri versucht eine Antwort. Und ich erlaube mir ein längeres Zitat zum Thema Lesen zu übernehmen…


Der Gebildete, so Peter Bieri, ist ein Leser. Das Lesen allein reicht nicht. Denn Lesen muss mehr als Zeitvertreib, Ansammeln von Informationen sein, „sondern als etwas, das innere Veränderung und Erweiterung bedeuten kann, die handlungswirksam wird“.
Und weiter:
Der Leser von Sachbüchern hat einen Chor von Stimmen im Kopf, wenn er nach dem richtigen Urteil in einer Sache sucht. Er ist nicht mehr allein. Und es geschieht etwas mit ihm, wenn er Voltaire, Freud, Bultmann oder Darwin liest. Er sieht die Welt danach anders, kann anders, differenzierter darüber reden und mehr Zusammenhänge erkennen.
Der Leser von Literatur lernt noch etwas anderes: wie man über das Denken, Wollen und Fühlen von Menschen sprechen kann. Er lernt die Sprache der Seele. Er lernt, dass man derselben Sache gegenüber anders empfinden kann, als er es gewohnt ist. Andere Liebe, anderer Hass. Er lernt neue Wörter und neue Metaphern für seelisches Geschehen. Er kann, weil sein Wortschatz, sein begriffliches Repertoire, grösser geworden ist, nun nuancierter über sein Erleben reden, und das wiederum ermöglicht ihm, differenzierter zu empfinden.“
Und Bildung schliesst eine weitere Dimension von Glück auf: die gesteigerte Erfahrung von Gegenwart beim Lesen von Poesie, beim Betrachten von Gemälden, beim Hören von Musik. Die Leuchtkraft von Worten, Bildern und Melodien erschliesst sich nur demjenigen ganz, der ihren Ort in dem vielschichtigen Gewebe aus menschlicher Aktivität kennt, das wir Kultur nennen. Niemand, der die Dichte solcher Augenblicke kennt, wird Bildung mit Ausbildung verwechseln und davon faseln, dass es bei Bildung darum gehe, uns „fit für die Zukunft“ zu machen.
Quelle:
NZZ am Sonntag. 6.November 2005

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