Die Fotokopie ist eine zentrale Kulturtechnik des 20.Jahrhunderts, steht aber im Schatten des Computers und hat wohl deshalb auch wenig Aufmerksamkeit erfahren.
Als die Neue Zürcher Zeitung in den 60er noch 3mal ausgetragen wurde, war die Fotokopie bereits erfunden. Trotzdem spielte sie im Schweizer Büro und Schulalltag noch kaum eine Rolle: Kopien wurden mit Kohlepapier hergestellt und spätestens beim dritten Durchschlag war das Geschriebene trotz kräftigem Anschlag auf der Schreibmaschine nur noch schwer zu lesen. Die Fotokopie existierte in der Kindheit des Schreibenden nicht. Und auch im Gymnasium in Einsiedeln gab nur die Schnapsmatrize mit ihrem typischen Blau und ihrem Sprit-Geruch. 1975 dann der Schritt vom Mittelalter in die Neuzeit mit dem Wechsel ans Realgymnasium Rämibühl hinter dem Pfauen. Gleich beim Eingang in den lichten Neubau stand ein Fotokopiergerät der Marke Xerox. Pro Kopie 20 Rappen, das ging natürlich schnell mal ins Geld und entsprechend zurückhaltend nutzten wir diesen Boten der Moderne. Die Kopien waren gestochen scharf, egal ob sie von einer maschinengeschriebenen Vorlage oder aus einem Buch kamen.
Dass gerade ein Fotokopierer der Marke Xerox in der Schule stand, war kein Zufall: Die amerikanische Technologiefirma war die Eigentümerin des Verfahrens, das deshalb auch xerografisches Verfahren genannt wurde. Es war nicht das einzige Kopierverfahren, aber bei weitem das erfolgreichste, denn es bedruckte ganz normales Papier.
Das Prinzip des heutigen Fotokopier-Verfahren ist – anders als der Computer – die Erfindung eines einzelnen Mannes: Chester F. Carlson (1906 – 1968) aus Rochester im US Bundesstaat New York. Als er sich an der Abendschule in New York zum Patentanwalt ausbilden liess, ärgerte sich über die viele Abschreibarbeit und sann auf Abhilfe. Es gab zu seiner Zeit zwar Kopierverfahren für Dokumente. Dazu zählte etwa der anfangs des Jahrhundert erfundene Photostat, der für ein einzelnes Dokument bis zu 30 Minuten brauchte. Carlson schwebte etwas Einfacheres vor.
Als Patentanwalt war er gewohnt zu recherchieren und so stiess er auf eine Publikation des ungarischen Physikers Paul Selenyi (1884-1954). Ihm gelang die Übertragung eines Bildes auf elektrostatischem Weg, indem er zunächst eine speziell beschichtete rotierende Trommel mit einem Ionenstrahl bestrahlte und danach das Bild auf der Trommel mit einem feinen Staub sichtbar machte. Der ungarische Entdecker hatte diesem Prinzip nach der Publikation offenbar keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt. Nicht so Carlson: Besessen von der Vision nach seinem eigenen Verfahren mietete er Räume für ein Labor und nahm sich einen Assistenten. Bereits 1937 meldete er ein erstes Patent an. 1938 reproduzierte er mit diesem Verfahren den handgeschriebenen Text: 10-22-38 ASTORIA
Aber von der Erfindung bis zur Entwicklung einer alltagstauglichen Maschine war ein weiter Weg: Carlson gelang es zwar, Unterstützung beim gemeinnützig orientierten Batelle Instituts zu finden. Aber auch das fruchtete zunächst nichts: Die grossen Firmen von IBM bis Kodak gaben ihm alle einen Korb und auch die Armee zeigte kein Interesse am Verfahren. Der Durchbruch kam erst 1945, als Carlson eine damals unbekannte Firma aus Rochester namens Haloid für das Verfahren interessieren konnte. Diese Firma konnte auch das Pentagon für die Erfindung begeistern: Tatsächlich war man dort auf der Suche nach einem Kopierverfahren, das nicht auf einem fotochemischen Prozess beruhte und deshalb atomkriegstauglich war. Den Namen des Verfahrens „Elektrophotographie“ sah Haloid als wenig geeignet für eine Vermarktung an – so wurde der Name Xerographie geschaffen. Ein Kunstwort aus den griechischen Begriffen xeros für trocken und graphein für schreiben.
1949 wurde der erste Fotokopierer ausgeliefert, er nannte sich Xerox Model A. Das Gerät war kompliziert, extrem störungsanfällig und überlebte nur, weil man damit perfekte Vorlagen für die Lithographie herstellen konnte, aber dafür war es natürlich nicht gedacht! Richtig erfolgreich wurde erst das Modell 914, das 1959 vorgestellt wurde und 1961 im grossen Stil vermarktet wurde.
Der amerikanische Sachbuchautor David Owen schätzt, dass 1955 weltweit nicht mehr als 20 Millionen Kopien hergestellt wurden, fast alle auf nicht-xerographischem Weg. 1965, fünf Jahre nach der Einführung des Modells 914 waren es fast 10 Milliarden. Fast alle davon xerographisch. Danach ging es exponentiell weiter. Haloid wurde Ende der 50er Jahre in Xerox umbenannt, in Europa in Rank Xerox. Sie verdankt ihren Erfolg auch einer Fehleinschätzung: Der effektive Markt für Fotokopien war sehr viel grösser als zunächst angenommen. Die Nachfrage entwickelte sich fast explosionsartig.
Bereits Ende der 70er Jahren lief der Patentschutz von Xerox ab, seitdem sind zahlreiche Konzerne wie Canon, Brother, Ricoh und andere in diesem Markt erfolgreich tätig. Genaue Zahlen über das aktuelle Kopiervolumen zu finden ist schwierig: Ein Papier von Hewlett Packard schätze es vor Jahren einmal bei über 50 Trillionen Kopien.
So schwierig das elektrostatische Verfahren zu Beginn schien, so vielseitig und einfach erwies es sich in der Folge. Der Schritt von der schwarzweiss zur farbigen Fotokopie war einfach: Der Toner lässt sich mit Pigmenten einfärben und mit farbigen Filtern lassen sich die drei Grundfarben trennen. Ein wichtiger Meilenstein war die Entwicklung der digitalen Fotokopie: Die Laserprinter, die anfangs der 80er Jahre auf den Markt kamen, waren eine Weiterentwicklung der xerografischen Technik: Das Original wurde nicht mehr auf einen Fotoleiter projiziert, sondern auf einen lichtempfindlichen Chip.
Nicht anders als bei andere Drucktechniken so rief auch das xerografische Verfahren nach Anwendungen in der Kunst: Naheliegende Spielereien wie der Abdruck von Hand und Gesicht auf der Glasplatte ermunterten die Künstler zu weiteren Experimenten. Mit wenig Aufwand liessen sich ständig neue Generationen von Bildern erzeugen: Wer die Kopie kopiert, erlebt auf faszinierende Art das langsame Verblassen des Bildes bis nur noch Rauschen übrig bleibt. Erste künstlerische Versuche wurden schon Mitte der 60er Jahre verzeichnet. Joseph Beuys arbeitete in seinem 1964 geschaffenen Greta Garbo Zyklus mit dieser Technik. Im Jahr 1970 gab die amerikanische Künstlerin Sonia Sheridan in Chicago den ersten Kurs zur künstlerischen Nutzung der Fotokopie. Im von ihr gegründeten Programm für generative Systeme konnte man gar einen Master in Copy Art erwerben!
Sehr schnell genutzt wurde das xerografische Verfahren auch im Animationsfilm, denn es erlaubte die rasche Vervielfältigung von Vorlage-Folien; erstmals angewandt wurde es 1961 im Disney-Film „101 Dalmatiner“. Auch wenn der Boom der Copy Art heute längst Geschichte ist, so hat das Fotokopierverfahren seinen festen Platz in der Kunstszene. Zur Copy Art gehört ein weiteres Medium: Das Fanzine. Ein Fanzine ist eine kleine Broschüre, mit einfachsten Mitteln produziert, oft liebevoll von Hand illustriert und in kleiner Auflage fotokopiert. Und so hat das Fanzine auch die Digitalisierung gut überstanden.
Wo kopiert wird, da will auch der Gesetzgeber genauer hinschauen. Nicht ohne Schmunzeln liest man heute den Titel einer Kampfschrift aus dem Jahr 1984 mit der Überschrift «Enteignung durch Fotokopieren». Der Autor vergleicht die damalige Situation mit der Not der Verlagsbuchhändler, die im 18.Jahrhundert durch Raubdrucke um ihre Einnahmen gebracht wurden. Ähnliche Bedrohungen sah man auch im Zeitalter der Fotokopie entstehen. Im Licht der Digitalisierung erscheinen die Probleme der 80er Jahre klein. Aber die Gesetzeshüter sahen auch in der Schweiz Handlungsbedarf und schufen die Kopierabgabe. Und so verteilte die Schweizerische Urheberrechtsgesellschaft für Literatur und bildende Kunst 1996 erstmals 2.5 Millionen Franken. 2010 waren es mit 11.3 Millionen Franken bereits fünfmal mehr. Der Vizedirektor von Pro Litteris, Werner Stauffacher, berichtet von einem steten Wachstum, das sich erst in neuester Zeit abgeschwächt hat. Wie viele Kopien in der Schweiz aber jedes Jahr gedruckt werden, weiss man auch bei Pro Litteris nicht, denn die Abgaben werden pro Gerät erhoben.
So erfolgreich die Fotokopie in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts im Westen war, so gefürchtet war sie im Osten: Zwar wurden auch in der DDR Fotokopierer gefertigt, die nach dem xerografischen Verfahren arbeiteten. Ihre Verbreitung wurde aber genauestens überwacht und über jede einzelne Kopie musste Buch geführt werden. Mehr verbreitet waren die Umdruckgeräte des Typs Ormig, die zum Beispiel von Kirchen benutzt werden durften und auch Eingang in Widerstandskreise fanden. Kampfschriften wurden aber in vielen Fällen auch einfach mit der Schreibmaschine und mit Kohlepapier vervielfältigt.
Im Feld der Kopierindustrie geben heute eine Handvoll grosser Namen den Ton an: Canon und Xerox als Marktführer, dicht gefolgt von Ricoh, Hewlett Packard, Konica Minolta und Lexmark. Herausgefordert werden sie von Toshiba, Samsung, Kyocera und Sharp. Eine Analyse der Marktforschungsfirma Gartner spricht von einem reifen und weitgehend gesättigten Markt. Heute geht es in vielen Grossfirmen darum, die riesige Flotte von Druckern zu konsolidieren und Kosten zu sparen.
Die leistungsfähigsten Geräte unterscheiden sich kaum mehr voneinander. Angesichts der Unmengen von Kopien ist heute zunehmend etwas anderes gefragt: Die Fähigkeit, grosse Mengen von Dokumenten in Organisationen zu verwalten und in einen Workflow zu integrieren. Dazu ist Papier denkbar schlecht geeignet: «We are not headed towards offices that use less paper but rather towards offices that keep less paper» hiess es bereits vor zehn Jahren in einer einschlägigen Publikation. Sind Dokumente nicht von Anfang an digital, so werden sie eingescannt um danach im Workflow weiter verarbeitet zu werden. Die Forschung sucht auch nach Wegen, den ausufernden Papierkonsum einzudämmen. Eine vielversprechende Idee ist etwa das wiederbeschreibare Papier „Erasable Paper“.
Der Erfolg der Fotokopie hält bis heute an. Und daran scheinen vorderhand weder Computer und Digitalisierung, weder eBook noch iPad etwas zu ändern. Visionen wie das Mitte der 70er Jahre erstmals beschriebene papierlose Büro halten sich zwar hartnäckig in den Köpfen und in der Umgangssprache, der Begriff taugt aber mehr als Steilvorlage für Büro-Witze oder als Topos für Stadtethnologen auf der Suche nach urbanen Mythen und Legenden. So schnell wird uns das Papier nicht verlassen, Chester Carlson sei Dank!
Dieser Text erschien unter dem Titel «Vom Verblassen der Bilder» in gekürzter Form in der Neuen Zürcher Zeitung vom16.8.2012 Nr.189 Seite 50.
http://www.nzz.ch/aktuell/digital/vom-verblassen-der-bilder-1.17482329
Druckversion (PDF) des ungekürzten Textes:
Foto: Bruno Jehle, Basel
Literatur:
David Owen: Copies in Seconds. Chester Carlson and the Birth of the Xerox Machine. New York 2004.
Klaus Urbons: Copy Art. Kunst und Design mit dem Fotokopierer. Köln 1991.