Amsel, Drossel, Fink und Star

In der Kolumne „Standpunkt“ vom Freitag 12. April 2019 mach ich mir Gedanken über die schwindende Vogelwelt.

Wenn der letzte Schnee geschmolzen ist und die Temperaturen über 10 Grad steigen, dann ist für mich wieder Velosaison. Ich mache mein Mountainbike wieder flott – kontrolliere Reifendruck und spendiere der Kette etwas Öl und dann geht’s los. Meistens sind meine Gelenke mehr eingerostet als mein Fahrrad und die Velo-App zeigt mir schmerzhaft an, was mit meinem Training vom letzten Herbst passiert ist: Es dauert alles länger.

Bei aller Freude über den Frühling werde ich beim Fahren auch jedes Mal etwas nachdenklich. Wenn Böume und Wiesen noch nicht blühen und uns mit ihren Farben und Düften verführen, dann sieht die Landschaft vielerorts etwas öde und langweilig aus. Zwar ist der Himmel blau und die Erde grün, aber das ist auch schon alles. Grün, grün, grün. Die grüne Wüste zeigt sich schon vor der Blütezeit. Es gibt kaum Hecken, Bäume fehlen, die Bäche sind verbaut und Wiese reiht sich an Wiese, Feld an Feld. Und wenn ich hier absteige dann bleibt es stumm in der Luft. Die Vögel sind weg.

Den Begriff der grünen Wüste habe ich von einem Imker in unserer Region zum ersten Mal gehört. Ist der Frühling und der Frühsommer vorbei, sind Bäume verblüht und die Wiesen gemäht, dann gibt’s kaum mehr Blumen und für die Bienen wird es schwierig.

Am 20.März zeigte das Schweizer Fernsehen einen Dokfilm, der genau das bestätigte. Er hiess „Das Schweigen der Vögel“. Im Mittelpunkt des Filmes stand der pensionierte Lehrer George Gilliéron. Er ist Hobby-Ornithologe und hat seit seine 15.Lebensjahr eine kleine Fläche von rund einem Quadratkilometer in der Nähe von Yverdon beobachtet: „Hier wo heute das Maisfeld ist, hatten damals vier bis fünf Lerchen ihr Territorium und man konnte sie singen hören“, sagt er. In der Schweiz sind 40 Prozent der Vogelarten bedroht, so die These des Filmes.

Der Titel ist eine Anspielung auf eines der berühmtesten Sachbücher der jüngeren Zeit: 1962 veröffentlichte die amerikanische Biologin Rachel Carson  ihre Recherchen unter dem Titel „Silent Spring“. Es geht darin primär um die Auswirkungen von Pestiziden, allen voran dem berüchtigten DDT. Ihr Buch gilt als eines der einflussreichsten Sachbücher und wurde von der damals noch jungen Umweltbewegung aufgegriffen.

Bei uns im Tösstal ist alles besser, dachte ich. Hier gibt es Hecken und Böschungen und viel Wald, Riedgebebiete und Mischzonen aller Art – Lebensraum genug für Vögel aller Art. Ich denke an den Graureiher, den ich auf meinen Radtouren oft sehe. Auch Eisvögel soll es hier geben, sagt meine Frau. Ich habe leider noch keinen gesehen. Ich beginne zu recherchieren, was nicht allzu schwer ist und gehe mit den Stichworten Vögel und Tösstal auf die Suche. Und nun erlebe ich den zweiten Schock: Auf den Seiten von Birdlife finde ich detailliert Statistiken für viele Zürcher Gemeinden mit den Vergleichszahlen von 1988 und 2008. Schade gibt’s keine neueren Zahlen. Kann man diesen Zahlen trauen, ist das eine seriöse Organisation, frage ich, denn ich bin kein Umweltspezialist. Ich denke ja: Birdlife ist eine Dachorganisation der Schweizer Vogelschützer mit über 16 000 Mitgliedern. Die Statistiken wirken detailliert und seriös.

Nun zu den Resultaten. Beginnen wir mit Turbenthal: „Die Gemeinde Turbenthal ist gemessen an ihrer Grösste artenarm. Im Vergleich zu anderen Zürcher Gemeinden erscheint sie auf der Liste der ornithologischen Artenvielfalt ganz hinten“. Wildberg: „Die Gemeinde Wildberg ist ornithologisch verarmt“. Zell: „Die Gemeinde ist mittelmässig positioniert“. Das Ganze wird mit Zahlen belegt, die selber erhoben wurden. Hier sind Spezialisten am Werk. Haben Sie schon je vom Baumpieper, von der Dorngrasmücke, vom Hänfling oder vom Waldlaubsänger gehört? – Das sind Vögel, die in Turbenthal 2008 nicht mehr festgestellt wurden. Dafür kam neu der Drosselrohrsänger, der Rotmilan und die Türkentaube dazu.

Den nächsten Schock erlebe ich als ich die die neuste Ausgabe von NZZ-Geschichte lese: Der Historiker Peter Bollag berichtet hier von einer systematischen Abholzaktion: Zwischen 1950 und 1975 wurden in der Schweiz Hundertausende, möglicherweise Millionen von Obstbäumen gefällt. Grund dafür sind zunehmende Schwierigkeiten beim Export von Schweizer Obst. Bereits im Winter 1950/51 wurden im Thurgau 400 000 Bäume gefällt. Dabei war man nicht wählerisch, besonders grosse Exemplare wurden auch mal gesprengt, überhaupt war das ganze fast militärisch organisiert. Luftaufnahmen mit Bildern vor und nach der Abholzung enthüllen das ganze Ausmass der Aktion. Dass die Aktion 1971 dann gestoppt wurde, ist kein Zufall: Es ist die Zeit des erwachenden Umweltbewusstsein.

Zurück zu meiner Radtour. Es gibt nicht nur schlecht Nachrichten. Dann und wann finde ich auch Buntbrachen. Das sind kleinere Flächen, die mit Wildkräutern angesät wurden und über mehrere Jahre stehen bleiben. Sie sind Lebensräume für Nützlinge wie Käfer und Spinnen und am Boden brütende Vögel. Ihnen droht noch Gefahr von anderer Seite: Von den Katzen. Aber das ist ein anderes Thema.

Gepflegt werden auch Biotope und Weiher – auch sie sind wichtige Brutgebiete. Es ist nicht so, dass nichts passiert und mir scheint, dass gerade im Zug der Diskussion um die Bio-Landwirtschaft einiges in Fluss gekommen ist. Mir scheint wichtig, dass wir den Begriff des Klimas nicht zu eng fassen. Es geht für mich immer auch um den Umgang mit unserer Umwelt. Und ein Wort an die Klimajugend: Recht habt Ihr, es würde Euch gut anstehen, Euch ein bisschen mit den Wurzeln dieser Bewegung in den 60er und 70er Jahren zu befassen.

Zürcher Brutvogelatlas