Ein Text, der zwei Wochen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Tössthaler in meiner persönlichen Kolumne publiziert wurde.
Es fällt schwer in diesen Tagen an etwas anderes zu denken als an den Krieg in der Ukraine. Das Gefühl von Ohnmacht, Entsetzen aber auch Angst ist übermächtig. Das geht vielen so – es hat gut getan in diesen Tagen mit Isabel Stuhlmann, der reformierten Pfarrerin von Turbenthal, darüber zu reden. Sie hat schon in den ersten Tagen ein Friedensgebet organisiert und Leute aus der Region zusammengebracht. Viele haben das Bedürfnis zu helfen, im Allgemeinen raten aber Hilfswerke von Sachspenden ab. Geldspenden sind nützlicher, denn man kann im benachbarten Polen alles kaufen und spart sich die Transportkosten. Bald werden Flüchtlinge aus der Ukraine hier eintreffen. Es werden Frauen mit Kindern und alte Leute sein. Die Männer dürfen das Land nicht verlassen. Es werden Unterkünfte gesucht. Allerdings ist es damit nicht getan: Wie kann ich verzweifelten Menschen beistehen, die jede Minute auf eine Nachricht von ihren Liebsten hoffen. Die Bilder, die über TV und Internet zu uns kommen, sind Bilder ihrer Heimat.
Ich war nach der Wende insgesamt drei Mal in der Ukraine und auch wenn ich weit davon entfernt bin, ein Kenner zu sein, so möchte ich doch von einigen Beobachtungen erzählen. Unsere erste Station war die Stadt Lemberg – Lviv nahe der Grenze zu Polen. Die Stadt gehörte bis zum ersten Weltkrieg zu Österreich – Ungarn, danach zu Polen, nach dem Zweiten Weltkrieg zur Sowjetunion und seit 1991 zur unabhängigen Ukraine. Aber Polen gibt es hier keine mehr, sie wurden alle vertrieben oder umgesiedelt. Viele lebten später im polnischen Breslau. Vor ein paar Wochen habe ich über die Vitaminferien für polnische Kinder im Tösstal geschrieben: Hier in Lemberg wurde der Initiant dieser Aktion, der Pole Zdzisław Pregowski 1912 geboren. Ein Bild aus dieser Stadt hat sich uns eingeprägt: Jeden Abend kommen auf der Parkanlage im Zentrum bei der Oper alte Leute zusammen und singen zusammen Lieder.
Die Ukraine ist ein Land, das im Zweiten Weltkrieg sehr gelitten hat, es wurde von Nazi-Deutschland erobert. Sämtliche Juden des Landes wurden deportiert und ermordet. Nicht ohne Grund nennt der amerikanische Autor Timothy Snyder die Region von Polen, Ukraine, Rumänien, Weissrussland und Baltikum Bloodlands – Blutland. Am Ende des Krieges hat die Sowjetunion das Land zurückerobert und dafür einen hohen Blutzoll gezahlt.
Bereits in den 1930er Jahren erlebte die Ukraine eine entsetzliche Hungersnot mit Millionen von Toten – gewollt herbeigeführt von Stalin, der dem Land sämtliche Getreide-Ernten weg nahm. Die Hungersnot wird auch Holodomor genannt. In Kiew erinnert ein Denkmal daran. Es liegt in einem Quartier, das ganz den Opfern des Zweiten Weltkriegs gewidmet ist. Hier ist die heroische Freiheitsstatue, die von weither sichtbar ist, hier ist ein Militärmuseum mit Waffen aus dem Zweiten Weltkrieg und hier ist ein Museum mit Fotos von 5000 Opfern des Krieges. Es sind zufällig gewählte Bilder, hinter jedem Bild ein Schicksal: Frauen, Männer, Kinder. Die schiere Masse der Bilder ist schrecklich aber noch schrecklicher ist die Erkenntnis, dass sie nur einen Bruchteil der Opfer zeigen.
Ebenfalls an der westlichen Grenze liegt die Stadt Czernowitz. Auch sie hat eine wechselhafte Geschichte. Hier lebten bis zum Zweiten Weltkrieg Juden, Deutsche, Rumänen, Ukrainer und Polen. Zahlreiche Schriftsteller kommen von hier, darunter Paul Celan, Rose Ausländer, Gregor von Rezzori, Alfred Margul-Sperber, Karl Emil Franzos. Fast alle waren Juden. Geprägt von der Erfahrung des Holocaust hat Paul Celan 1947 die berühmte Todesfuge geschrieben: «Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends/ wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts/wir trinken und trinken/wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng». Heute ist die Bevölkerung von Czernowitz zu 80 Prozent ukrainisch. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist selber Jude und hat drei Familienmitglieder im Holocaust verloren. Umso absurder der Vorwurf Putins, das Land sei in der Hand von Nazis.
Die Ukraine besteht nicht nur aus Städten, sondern aus riesigen, landwirtschaftlich genutzt Gebieten, kleinen Dörfern. Wir fahren mit einem uralten Zug im Schneckentempo durch diese Landschaft mit Feldern und Dörfern, die aus einer anderen Zeit zu stammen scheint. Von Kiew nach Odessa geht’s dann mit einem modernen Schlafwagen. In Odessa herrscht ein mildes, mediterranes Klima. Die Stadt überrascht uns durch die westliche Architektur aus dem 19.Jahrhundert. Ein Drittel der Bevölkerung hier sind Russen.
Viele Familien in Russland und in der Ukraine haben Freunde und Verwandte im anderen Land. Kein Mensch würde die anderen als Feinde wahrnehmen – gestern nicht und heute nicht. Die russischen Soldaten schiessen womöglich auf ihre eigenen Verwandten. Kein Wunder ist ihre Kampfmoral schlecht. Es gibt Berichte, dass russische Soldaten einfach ihre Panzer stehen lassen und davonrennen. Auf Instagram sieht man Videos von verstörten, Soldaten, eigentlich noch Kinder, die weinen wenn sie ihre Mütter zuhause anrufen dürfen. Das sind natürlich auch Propaganda-Bilder von Seiten der Ukraine und die Zurschaustellung von Kriegsgefangenen ist durch das Kriegsvölkerrecht verboten.
Die Ukraine hat eine komplizierte Geschichte und sie war bis 1991 Teil der untergegangenen Sowjetunion. Aber das kann keine Rechtfertigung für die Wiederherstellung des einstigen sowjetischen Imperiums sein. Keinem Menschen würde es in den Sinn kommen, das Britische Empire, die Donaumonarchie oder das osmanische Reich wieder auferstehen zu lassen.
Und nun also ist hier Krieg – und es nicht nur Krieg, es bricht ein Konflikt auf, der mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 und dem Ende des Kalten Krieges 1989 beendet schien. Es ist schwer zu akzeptieren, dass dies nicht so ist. Ich bin 1958 geboren – Frieden war für meine Generation eine Selbstverständlichkeit. Nicht so für unsere Eltern und Grosseltern. Im Schutz dieses Friedens hat gerade die Schweiz eine schon fast atemberaubende Entwicklung durchmachen können. Was mir und meiner Generation als selbstverständlich schien, ist plötzlich infrage gestellt. Es sind nicht nur die Bilder aus der Ukraine, die mir nachts den Schlaf rauben, es ist auch diese Perspektive und die bange Frage: Wie geht das weiter?
Der Text erschien am 11.März 2022 als Standpunkt im Tössthaler.