Die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Massnahmen wecken bei älteren Bewohnerinnen und Bewohnern im Tösstal Erinnerungen an eine andere Epidemie: Die Maul- und Klauenseuche in den Jahren 1965 und 1966.
Es war ein Schock, erinnert sich Erna Hächler Henn, die in Langenhard aufgewachsen ist und dort in den 1960er Jahren die Primarschule besucht hat: «Es war an einem Samstag nach der letzten Schulstunde, da fuhr Köbi Stump, der Klauenschneider der Gemeinde, am Schulhaus vorbei und rief: «Ihr habt die Maul- und Klauenseuche». Die Kinder gingen mit dieser Schreckensbotschaft heim und sofort wusste es das ganze Dorf. Die Schule wurde sofort geschlossen, die Kinder in die Ferien geschickt. Im Dorf ging die Angst um: Wen würde es als Nächsten treffen?
Wir besuchen Berti und Köbi Kündig. Sie wohnen in Oberlangenhard in ihrem Stöckli. Die beiden hatten damals gerade den Betrieb nebenan übernommen und können sich genau an den Tag erinnern, an dem alles begonnen hat: Es war am 11.Dezember 1965, einem Samstag. Angefangen hatte es beim Nachbarn, der Familie Werren. Am Sonntagabend merkte die Familie Kündig, dass in ihrem Stall etwas nicht stimmte. Einige Kühe hatten Schaum um den Mund. Für Tierarzt Gubler, der sofort beigezogen wurde, war klar: Das war «d Süüchi», so sagte man damals der Maul- und Klauenseuche. Schon am nächsten Tag, am Montag 13.Dezember 1965 holten die Behörden alle Tiere, 25 Kühe, drei Schweine, Hühner. Alles weg. Danach war gespenstische Stille.
Der Hof der Familie Kündig war einer von drei Höfen in Langenhard, der betroffen war. Er wurde unter Quarantäne gestellt. Niemand durfte mehr das Grundstück verlassen, niemand durfte mehr das Land betreten. Pressebilder von damals geben den beklemmenden Moment von damals gut wieder: Man zog einen Plastikzaun um das Haus. Der Pöstler musste die Post am Zaun übergeben. Ein Kind stellte einen «Chratten», einen Korb dahin mit einem Einkaufszettel für den Gemeindearbeiter Herbert Lüthi aus Kollbrunn, der die Einkäufe für die Betroffenen besorgte. Er musste sich vor- und nachher desinfizieren und über eine sogenannte Sägemehlbrücke gehen. So ging das einige Wochen. Die Familie hatte damals schon sechs Kinder, die Nachbarn fünf und es war schwierig, die Kinder daran zu hindern, das Gelände zu verlassen, um mit den Nachbarn zu spielen. Grossartig aber die Solidarität im Dorf: Man organisierte einen Bazar, um den Bauernfamilien zu helfen. Es gab zwar schon damals eine Viehversicherung – sie war im Kanton Zürich schon Ende des 19.Jahrhunderts obligatorisch erklärt worden – aber die deckte nur zwei Drittel der Schäden. Und in der Zeit der Quarantäne hatte die Familie kein Einkommen und war auf Ersparnisse und Hilfe von aussen angewiesen. Es war eine schlimme Zeit, «e schiiteri Ziit», erinnern sich die beiden heute noch. Die Quarantäne wurde am 31.Dezember 1965, also nach drei Wochen, aufgehoben. Bis dahin musste der ganze Hof desinfiziert werden. Die Gülle durfte nicht ausgebracht werden und der Mist musste beim Pflügen tief untergeackert werden. Die Familie musste aus dem Haus, alle Kästen mussten ausgeräumt werden, dann wurde Ätznatron verspritzt. Das hat man noch lange gerochen: «Jedes Mal beim Heizen brannten uns die Augen», erinnert sich Berti Kündig.
Der erste Fall von Maul- und Klauenseuche in der Schweiz wurde damals am 21.Oktober 1965 im Waadtländer Ort Brent und wenig später auch in Schönenbuch im Kanton Baselland festgestellt. Danach breitete sich die Tierseuche sprunghaft im Mitteland aus, deutlich weniger stark in der Ostschweiz. Zeitzeugen erinnern sich auch an einen Ausbruch in Neubrunn.
Der wichtigste Ausbreitungsfaktor, so sagen Veterinäre heute, war der motorisierte Verkehr: [«Hohe Infektiosität des Erregers, leichte Übertragbarkeit und lange Inkubationszeit spielten für den Verlauf des Seuchenzuges eine wesentliche Rolle». Einzelne Tiere erkrankten erst 16 Tage nach der Infektion, heisst es in einem Aufsatz im Schweizerischen Archiv für Tierheilkunde aus dem Jahre 1966.] Trotzdem kam der Kanton Zürich mit einem blauen Auge davon und verzeichnete nur 36 Fälle, heisst es in einer historischen Darstellung des Veterinäramts des Kantons Zürich.
Die Bekämpfungsmethoden waren genauso drastisch, wie sie Berti und Köbi Kündig schildern: War ein Tier krank, so mussten alle Tiere geschlachtet werden, dazu kamen Desinfektion, strenge Sperrmassnahmen und Impfungen rings um den Seuchenherd. Entscheidend aber war das Tempo. Es ging nicht um Tage, sondern um Stunden. Weil sich die Seuche in der Schweiz damals trotz rigorosen Massnahmen weiter ausbreitete, musste man am Schluss den gesamten Rindviehbestand von 1.7 Millionen Stück durchimpfen. Das schaffte man damals in nur einem Monat. Mitte Januar 1966 war man damit fertig, lesen wir im Bericht zum hundertjährigen Jubiläum des kantonalen Veterinäramtes.
Die Maul- und Klauenseuche war in der Schweiz vor allem zwischen 1888 und 1940 ein Dauerbrenner. Immer wieder kam es zu Ausbrüchen, am stärksten 1920. Diesem Ausbruch fielen gegen 25 Prozent des gesamten Viehbestandes zum Opfer; 1938/39 gab es erneut einen heftigen Ausbruch. Deshalb war man 1965/66 gut vorbereitet.
Was ist nach 1966 passiert? – Auf den Seiten des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen lesen wird: «Der letzte Fall in der Schweiz war 1980 zu verzeichnen. Heute ist die Schweiz amtlich anerkannt frei von der Maul- und Klauenseuche.» Allerdings ist die Seuche vor allem in Asien, Afrika, im Nahen und Mittleren Osten sowie in Südamerika verbreitet. 2007 kam es zu einem Ausbruch in Südengland. 2015 gab es vermehrt Ausbrüche der Krankheit in der Türkei und in Nordafrika.
Tierseuchen sorgen allerdings immer wieder für Nervosität und gerade jetzt ist man im Veterinäramt des Kantons Zürich wieder in Alarmstimmung. Vor ein paar Tagen wurden in Niederglatt in einem Geflügelbetrieb mehrere Tiere auf die hochansteckende Newcastle Krankheit getestet wurden… seitdem laufen die Leitungen beim Kanton heiss.
Nachtrag zum Thema Solidarität: Bei unserem zweiten Treffen sagt Köbi Kündig, er müsse noch eine wichtige Geschichte nachtragen. Im Frühjahr 1966, einige Monate nach dem Ende der Seuche, habe ihn ein Kollege an einen Kompagnie-Abend des Winterthurer Füsilier Bataillons 98 nach Unterwasser eingeladen und zwar in zivil. Er hatte bereits 1961 den letzten WK absolviert. Am Schluss des Abends rief ihn der Kommandant zu sich und überreichte ihm einen Umschlag mit 2500 Franken, soviel kostete damals eine Kuh. Die ganze Kompagnie hatte für ihn und seine Familie gesammelt. Das waren etwa 120 Mann, davon waren höchstens ein Dutzend Landwirte. Köbi Kündig war überwältigt, noch heute kann er seine Rührung kaum verbergen.
HINTERGRUND
Scharfe Massnahmen schon im 19.Jahrhundert
Wie war es im Tösstal mit Seuchen in der Vergangenheit? Wir finden im Archiv der Gemeinde Turbenthal einen Band der Gesundheitskommission der Gemeinde aus den Jahren 1890 bis 1921. Es sind handgeschriebene Protokolle, die sich heute nicht ganz einfach lesen lassen. Einige Feststellungen drängen sich aber schon nach einer kurzen Durchsicht auf: Schon am Ende des 19.Jahrhunderts hatte die Gesundheitsvorsorge einen hohen Stellenwert und die Gesundheitskommission musste dafür sorgen, dass Anordnungen von Kanton und Bund richtig umgesetzt wurden. Ihr Pflichtenheft war gross. Wir lesen vom Hebammenwesen, von Fleisch- und Milchkontrollen, von der Organisation der Krankentransporte. Auch das Brot und das Bier waren Gegenstand von Inspektionen, auch wenn wir heute nicht mehr wissen, was eine «Brotschau» war. Der Verkauf von Kaffee-Surrogaten wie Zichorie war genau reglementiert. Dann geht es um die Wahl des Friedhofgärtners, um Sarglieferungen und um Lärm und Gestank.
Die Vorsorge gegen die Maul- und Klauenseuche ist immer wieder ein Thema in den Protokollen, aber es war nicht die einzige Seuche, die damals zu Sorgen Anlass gab. Am 7.Februar 1806, so lesen wir, wurde im Stall der Witwe Bosshard bei einer Ziege Milzbrand festgestellt. Über den Stall wurde eine Stallbann verhängt, die Tiere durften den Stall nicht mehr verlassen.
Am 21.Oktober 1895 gab es einen Masernausbruch: Kinder aus betroffenen Familien durften die Schule nicht mehr besuchen. Allgemein wurden den betroffenen Eltern nahegelegt, ihre Kinder vor dem Schulbesuch zu baden und sie vor dem Schulbesuch mit frischer Leibwäsche zu versehen.
Der Grippe-Epidemie von 1918/19 fielen im Kanton Zürich 2500 Menschen zum Opfer, viele davon waren junge Männer. In der ganzen Schweiz gab es 25 000 Opfer. Eingeklebte Zeitungsauschnitte dokumentieren die Massnahmen gegen die Grippe im Tösstal: So wurden zum Beispiel alle Gottesdienste abgesagt, auch Tanzveranstaltungen waren verboten.
Schon bei einer oberflächlichen Lektüre erhalten wir den Eindruck, einer entwickelten Gesundheitsvorsorge in die Städte und Gemeinde eingebunden waren. Schon 1762 übersetzte der Zürcher Stadtarzt Hans Caspar Hirzel das damalige Standardwerk des Lausanner Arztes Auguste Tissot ins Deutsche: «Anleitung für das Landvolk in Absicht auf seine Gesundheit.» Die Jahre von 1860 bis 1910 gelten als Hochblüte der Entwicklung von öffentlichen Hygienemassnahmen. Die Kantone begannen sich mit der Gesundheitsvorsorge zu beschäftigen. Der Kanton Zürich erliess 1876 ein entsprechendes Gesetz. Die Umsetzung wurde aber an die Gemeinden delegiert. Die Gesundheitskommissionen hatten dabei eine zentrale Bedeutung. Diskutiert wurde schon damals die Frage, wie weit der Staat in die Privatsphäre der Einzelnen eingreifen darf.
Und was lernen wir daraus für heute? – Die Massnahmen gegen Corona von heute stehen in einer langen Tradition: Man hat im Lauf der Zeit gelernt, mit solchen Gefahren umzugehen. Angenehm war das auch damals nicht.
Dieser Text erschien am 4.Februar 20202 im Tössthaler. S.11:
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Links
Radar-Bulletin des BLV
https://www.blv.admin.ch/blv/de/home/tiere/tierseuchen.html
Veterinäramt des Kantons Zürich
https://www.zh.ch/de/umwelt-tiere/tiere/tierseuchen.html
Desinfizierte Post
Zusammenfassung Geschichte der MKL im Jahresbericht 2014 zu 100 Jahre Veterinäramt»