Rumänien 2010 (2) – Ein fernes Land

Eine Reise nach Rumänien ist auch heute – 20 Jahre nach dem Ende des Kommunismus – „nach der Revolution“, wie man hier sagt – eine Reise in ein fernes Land.
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Für unsere Reise in den Norden des Landes wählen wir dieses Mal einen Flug via München nach Cluj. Die Industrie- und Universitätsstadt am Rand von Siebenbürgen empfängt uns mit einer brandneuen und fast vollkommen unbelebten Ankunftshalle. Pfützen am Boden weisen darauf hin, dass der Neubau noch einige Mängel hat. Das alte Flughafengebäude nebenan – es stammt wohl aus den 50er oder 60er Jahren und ist baugleich im Tirgu Mures, Timisoara und wohl auch anderswo zu finden – scheint zur Zeit unbenutzt. Unsere Lufthansa-Maschine aus München ist das einzige Flugzeug, später landet noch ein Maschine aus Palma. Wer reist hierher: Rumänen, die im Ausland leben; im Gespräch lässt eine ältere Frau erkennen, dass sie wohl zu den Siebenbürger Sachsen gehört und für einige Tage zurück in die alte Heimat kommt.
Das Mietauto scheint uns auf den ersten Blick etwas gross – aber das ist auf den hiesigen Strassen mehr Vor- als Nachteil. Danch geht’s zum Zentrum: In der Innenstadt ein Treffen mit Bianca B; sie lehrt an der hiesigen Universität deutsche Literatur. Ihr Interesse gilt offenbar den rumänischen Dichtern deutscher Sprache und so reden wir bald über Eginald Schlatter und sein Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit der Siebenbürger Sachsen; Herta Müller wird offenbar erst seitdem sie 2009 den Literaturnobelpreis erhalten hat, auch als rumänische Autorin gefeiert. Und natürlich landen wir auch bei Florescu, dessen Buch „Der blinde Masseur“ wir kennen. Biancas spezielle Aufmerksamkeit gilt Paul Celan – auch er wird in Rumänien offenbar wenig gelesen. Dessen Heimatstadt Czerrnowitz war einst Teil von Österreich-Ungarn, später Teil der fragwürdigen Blüte von Gross-Rumänien, heute liegt es in der Ukraine. Staatszugehörigkeiten und Landesgrenzen sind schnell kompliziert in Mitteleuropa. Von Grossrumänien träumen auch noch – oder heute wieder – die Nationalisten. Dass einer der unseligsten Exponenten der ultranationalen Partei Romania Mare – Grossrumänien, ein gewisser Herr Funar – nach dem Umsturz ausgerechnet in der weltgewandten Universitätsstadt Cluj zum Bürgermeister gewählt wurde, erstaunt uns.
Was hat das Riesenhandy auf dem Platz der Einheit verloren? – Die Antwort erfahren wir später…
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Der grosse Platz vor der Michaels-Kathedrale von Cluj wird gerade als Ankunfts-Platz für ein Auto-Rally benutzt. Viel Publikum vermag das laute Spektakel aber nicht anzuziehen und die Hochzeitsgäste aus der Kirche verlassen nach einem raschen Fotohalt fluchtartig den Platz. Der Regen macht die Stadt, mit der österreichisch-ungarischen Vergangenheit nicht gemütlich, auch wenn es mittlerweile Dutzende von Kaffehäusern und Bierschenken gibt.
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Zwei Tassen Kaffee später geht’s auf den Weg, wir möchten bis gegen Abend in Viseu de Sus ankommen. Stundenlanger Dauerregen ist unser Begleiter. Man hat uns gewarnt vor dem „Karpatenregen“. Wenige Kilometer nach dem Ortsausgang von Cluj bleibt unser Blick an einem Schild hängen, das den Weg zu einem Nokia-Werk weist. Jetzt verstehen wir auch den Sinn einer merkwürdigen Skulptur auf dem Platz der Einheit: Ein Nokia-Handy zusammengesetzt aus lauter alten Mobiltelefonen. Tatsächlich hat Nokia vor ein oder zwei Jahren seine Zelt in Deutschland abgebrochen und ist – unter lautem Protest – nach Rumänien gezogen. Das Glas ist immer halbleer oder halbvoll, alles eine Sache der Perspektive.
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Für die Rumänen in diesem Fall ein Segen und warum dies so ist wird uns gleich einige Kilometer weiter vorgeführt: Wir passieren eine riesigen, zerfallenden Industriebau. Was hier hergestellt wurde ist nicht mehr ersichtlich. Und gleich nebenan passieren wir ein landwirtschaftliches Kombinat von dem nur noch der unterste Teil der Mauern zu sehen ist.
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Nach einer Stunde verlassen wir die Hauptstrasse und biegen in eine Passtrasse ein, die uns von Siebenbürgen nach Maramures bringt. Nun wird’s richtig ländlich. Die Bauernhäuser erinnern uns an den Besuch des Freilicht-Museums von Lemberg vor einem Jahr. Die meisten der Bauernhäuser stammten aus Transkarpatien. So heisst diese Gegend von Maramures jenseits der Grenze zur Ukraine…
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Um sieben Uhr treffen wir in Viseu de Sus – zu Deutsch Oberwischau – ein. Der Ort war einst ein Schnittpunkt der Kulturen. Hier lebten Rumänen, Ungaren, Zipser-Deutsche, Ruthenen und viele Juden. Dazu kamen die Huzulen – ein mythischer (oder mystifzierter?) ukrainischer Stamm und die nicht minder sagenumwobenen Waldjuden, unter ihnen offenbar etliche Räuber und Wegelagerer.
Der rumäniendeutsche Volkskundler Claus Stephani hat in den 70er und 80er Jahren des 20.Jahrhunderts die Bewohner dieser Gegend befragt und ihre Geschichten festgehalten. Eines seiner Themen war auch das Verschwinden der jüdischen Kultur, der Holocaust. Eines seiner Bücher war auch der Auslöser unserer Reise. 1990 konnte ich für ein halbes Jahr für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Siebenbürgen, genauer in Tirgu Mures (heute Targu Mures…) arbeiten. Claus Stephanis dtv-Bändchen „Frauen im Wassertal“ war damals eines der wenige Bücher, das auf dem Buchmarkt zu kaufen gab. Stephani befragte Frauen aus verschiedenen Generationen und zeichnet ein einmaliges Bild des Alltags in diesem entlegenen Ort am Ostrand der Karpaten auf. Seitdem sind mir Oberwischau und das Wassertal ein Begriff.
20 Minuten Fahrt über einen holprigen Feldweg zum Gästehaus „Poarta Muntilor“ von Florentina und Björn. Ihre Geschichte ist bewegend und gleichzeitig ein Stück Zeitgeschichte im besten Sinn: Björn, ein Bühnenbildner aus der ehemaligen DDR, kam als Kind jeweils in diese Gegend. Nach der Wende zog es ihn, diesmal für etwas länger, wieder zu seinen Kindheitserinnerungen. Im Weintal – Val Vinului bei Oberwischau lernte er seine Florentina kennen. Seit zehn Jahren führen die zwei ein Gästehaus, das seinesgleichen sucht: Eine sorgfältig renovierte Gruppe von einfachen Häusern, Bauernkaten haben sie umgebaut. In einem Obstgarten steht ein Holzpavillon.
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Wir bewohnen eine stattliche Wohnung mit einem Balkon und Sicht auf Pavillon und Obstgarten und gleich nebenan plätschert ein Bach uns sanft in den Schlaf und würde der Regen wirklich tagelang anhalten, liesse es sich hier ganz trefflich auch ohne Spaziergänge und Ausflüge sein. Florentina kocht auf Wunsch Frühstück und Abendbrot. „Leicht modernisierte rumänische Küche“ hab ich das nach unserem ersten Besuch genannt, der Begriff hat den beiden so gut gefallen, dass sie ihn offenbar nun in ihren Wortschaft aufgenommen haben. Wein gibt’s im Weintal keinen eigenen. Dafür jede Menge Schnaps: Zuica, selbstgebrannter Zwetschenschnaps, Rumäniens Universal-Lebensmittel für gute und vor allem weniger gute Zeiten. Eine bauchige Vorratsflasche unter dem Tisch lässt erahnen, dass Bedarf gross ist und bis im Herbst noch einige Gäste erwartet werden.
Unter den Gästen ist ein hiesiges Geschwisterpaar. Die beiden Kinder stammen aus einer ruthenischen Bauernfamilie die den Sommer jeweils in Obcina, einer Alp über dem Tal verbringt. Ihr Vater ist vor kurzem von einem Zug überfahren worden, als er auf der falschen Seite ausstieg, er wurde gevierteilt, erzählt Björn. Unsere Gastgeber unterstützen Mutter und Grossmutter und nehmen die beiden in den Sommerferien zu sich. Der 11jährige Junge träumt von einem Fahrrad und Björn möchte ihm gern eines beschaffen. In Frage kommt aber nur ein besonders robustes Mountain Bike, denn von hier nach Obcina hats im besten Fall einen holprigen Waldweg. Ein Schweizer Informatiker – auch er ein Gast – sei vom Schicksal der beiden so berührt gewesen, dass er für die beiden regelmässig einen Geldbetrag überweist.

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