Polen, Masuren, Staufenberg und eine Synagoge

Es war ein merkwürdiger Zufall, welcher uns im Sommer 2004 fast auf den Tag genau 60 Jahre nach dem Attentat auf Hitler von Claus Schenk Graf von Stauffenberg in diese Gegend brachte.

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Lieblich, unendlich weit in unseren Augen, die immer einen Horizont am nächsten Hügel oder Berg zu sehen gewohnt sind. Stunden und Tage unterwegs auf den oftmals holprigen Strassen Polens in Masuren und im ehemaligen Ostpreussen. Naturerlebnisse im Flachland von einer Gewalt wie wir sie sonst nur aus den Bergen kennen ? so etwa im Urwald des Bialowiecki Nationalparks an der weissrusischen Grenze. So naturbelassen seit Jahrhunderten weil es einstmals den russischen Zaren als Jagdgebiet diente. Endlose Sumpflandschaften dann weiter westwärts im Tal des Bibers, dem heutigen Biebrza Nationalpark, der erst seit anfangs 90er Jahre erst ein Nationalpark ist.

Wir begegnen seltenen Wildtieren oder sehen Spuren von ihnen. Einen Auerochsen – Wisent – in den Wäldern bei einer frühmorgendlichen Pirsch in der Gegend des Bialowieki Nationalparks, einer Anzahl Elchen in den Sümpfen der Biebrza; der Fluss soll der einzige Fluss Europas sein, der auf seiner ganzen Länge nie verbaut wurde und deshalb je nach Jahreszeit und Wasserstand mäandriert und eine der interessantesten Sumpflandschaften Europas bildet. Hunderte von seltenen Vögeln nisten hier ? nicht ganz unbeachtet von den Natur- und Vogelfreunden dieser Welt. So soll die seltene Doppel-Schnepfe es vorgezogen haben, einen anderen Nistplatz zu suchen, als ihr in einem Jahr über 400 Ornithologen ihre Aufmerksamkeit schenkten. Etwas weniger selten und doch aufregend für uns die fischtauchenden Kormorane, die Ibikusse ? einzelne haben gar den Wiedehopf mit seinem charakteristischen Hahn gesehen, der auch in der Schweiz ein seltener Gast geworden ist. Und: Immer wieder Störche. Dutzende, oder gar Hunderte. Ein Viertel des gesamten europäischen Storchenbestandes soll in Polen leben. Und ein anderes Viertel wohl im rumänischen Siebenbürgen…
Wir sind bald darauf im ehemaligen Ostpreussen. Zwar nicht in bekannten Orten wie Königsberg oder Danzig, dafür in kleineren Ortschaften. In Elk, dem ehemamaligen Lyck, dem Geburtstort von Siegfried Lenz, dessen schelmische Erzählungen ?So zärtlich war Suleyken? oder das schwergewichtige ?Heimatmuseum? uns begleiten. Gespannt warten wir darauf, Steinort, das heutige Sztynort zu sehen. Hier liegt das Schloss der Familie Lehndorf, das der letzte Abkömmling dieser Familie, Hans Graf von Lehndorf in seinem Buch ?Menschen, Pferde, weites Land? kurz streift. Sein Vetter gehört zum Kreis um Stauffenberg und wurde wie dieser auch hingerichtet. Die Fenster des Schlosses, sind heute mit schwarzem Plastik verdeckt, das Schloss droht zu verfallen. Es fehlt hier wie andernort am Geld, diese Gebäude zum Leben zurück zu bringen.

Eine Reise durch Polen ist eine Reise in die Vergangenheit. Kein Tag vergeht ohne dass wir nicht mit Wunden und Narben der schmerzhaften Geschichte dieses Landes konfrontiert werden. Die meisten Leute, so unser Eindruck, wurden nicht hier geboren, kamen einmal im Lauf einer der Verwerfungen dieser Geschichte hierher. So schön die Landschaft ist, so hässlich sind häufig die Städte. Die meisten wurden im Krieg total zerstört, an den meisten Orten fehlten Mittel und Wille und Rekonstruktionen historischer Stadtkerne wie wir sie aus Danzig oder Warschau kennen sind auf diese grossen Städte beschränkt. Rasterburg, nur wenige Kilometer von der berüchtigen Wolfsschanze entfernt, ist ein solches Beispiel. Weit gehend intakt aber in einem miserablen Zustand Rösl, das heutige Resl.
Eine Überraschung deshalb das historische Städtchen Tykocin. Die Gebäude wirken intakt, gepflegt und entstellende Neubauten entdecken wir kaum. Im unteren Teil eine für unsere Begriffe überdimensionierte katholische Kirche. Im oberen Teil eine barocke Synagoge, gebaut 1641. Tykocin beherbergte die zweitgrösste jüdische Gemeinschaft ? nach Krakau. Rund um die Synagoge sind Häuser, die wohl einst zum jüdischen Schtetl gehört haben mögen. Hier hat sich das Leben abgespielt, das wir aus den Büchern von Isaac B.Singer kennen. Der Kloss, der sich beim Rundgang durch das Dorf langsam gebildet hat, wird grösser, als wir in die Synagoge, heute ein Museum eintreten und nähere Aufschlüsse über die jüngere Geschichte finden:

„During the first days of the German occupation, a pogrom was conducted by the Poles with the encouragement of the Germans, and Jewish property was looted. The Jews were drafted for forced labor and freedom of movement was limited. On August 25, 1941, the Jews of the town were called to assemble in the market square. After a Selektion, about 1,400 people were transported to large pits that had been prepared near the city in the Lupochowo forest and were murdered. Some of the Jews succeeded in hiding, but the next day they were caught and executed by the Polish police.“(Enzyklopaedia Jucaica)

„Und der Wind da draussen, der flüsterte dem Rebben etwas in das Ohr. Und der Rebbe nickte und sagte: ?Ja, du hast vollkommen recht. Die Gojim sind dumm. Sie plündern jetzt unsere Häuser. Und sie graben in unseren Gärten. Und sie glauben, dass wir alles zurückgelassen haben, das wir besassen. Und sie lachen sich ins Fäustchen. Dabei wissen sie nicht, dass wir das Beste mitgenommen haben.“ ?Was ist das Beste?“, fragte der Wind. Und der Rebbe sagte:“Unsere Geschichte. Die haben wir mitgenommen.“ Und der Wind sagte: ?Aber Rebbe. Das kann doch nicht sein. Die Geschichte der Schtetljuden ist zurückgeblieben.“  Nein“, sagte der Rebbe. ?Du irrst dich. Nur die Spuren unserer Geschichte sind zurückgeblieben“. Edgar Hilsenrath in: Jossel Wassermanns Heimkehr

Tiefe Betroffenheit dann auch in Warschau. Schon das Hotel Europejski grüsste uns zum Frühstück auf der Durchreise mit einem riesigen Bild, das den Zustand des Hauses am Ende des Krieges zeigte. Bevor wir durch die rekonstruierte Altstadt gehen, bringt uns die Touristenführerin zum Denkmal des Warschauer Ghettos. Wir kennen das Denkmal nicht, aber das berühmte Bild vom Kniefall Willy Brandts aus dem Jahre 1970 ist uns wohlbekannt. Der Ghetto Aufstand war nicht der einzige Aufstand, den die deutschen Besetzer blutig niedergeschlagen hatten: Auch wir hätten ? wie der Zürcher Tages-Anzeiger und der deutsche Bundespräsident ? bis vor kurzem den Aufstand im Warschauer Ghetto mit dem grausamen Schlusspunkt des Krieges in Polen, dem Warschauer Aufstand verwechselt. Jetzt verstehen wir, warum die Rekonstruktion des alten Stadtkerns von Warschau für die Polen so wichtig war. Und wir ahnen die Last der Geschichte auf der schwierigen Beziehung mit Deutschland.

Seit dem Zweiten Weltkrieg sind 60 Jahre vergangen. Und es gibt Stimmen die sagen, eigentlich ist er erst 1989/90 zu Ende gegangen. Das ist Europas schweres Erbe. Die Europäische Union ist, wie Joschka Fischer sagt, eine Idee, die aus dem Schmerz geboren ist. Die Osterweiterung eine historische Chance.

Unsere Polen Besuch klingt in Warschaus Geschäftsviertel aus ? an der Novia Swieta. Dort besuchen wir das grösste Bücher und Musikgeschäft der Stadt, das es mit seinesgleichen in London oder Paris messen kann und kommen mit Jugendlichen ins Gespräch. Sie sprechen alle, wenn auch gebrochen, Englisch und helfen uns gerne aus. Die Rockband Myslovitz kennen wir bereits, hier finden wir weitere CDs dieserGruppe, die im Sommer 2004 an verschiedenen Schweizer Open Airs zu hören war, dort entstand auch unser Bild. Wir fragen nach dem Namen derbekanntesten polnischen Rap Band. Sie heisst Fish. Eine weitere CD wandert in unseren Einkaufskorb.

Weitere Bilder unter
http://www.dominiklandwehr.net/gallery/v/polen/
Nature Travel Polen
www.masuren.travel.pl/
Biebrza National Park
www.biebrza.com
Myslovitz (Mit Hörproben)
http://www.myslovitz.pl/

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