Nur 44 Tage lang währte die Autonomie der Partisanenrepublik Ossola wenige Monate vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Wir stossen in Domodossola auf eine interessante Geschichte aus dem Jahr 1944.
Der 25.April ist für Italien ein besonderer Tag: es ist der Tag der Befreiung, an diesem Tag endete für Italien im Jahr 1945 der Zweite Weltkrieg, es ist ein Tag von nationaler Bedeutung. Im übrigen Europa wird stattdessen der 8.Mai, Tag der Kapitulation von Nazi-Deutschland, gefeiert. Entsprechend waren bei unserem Besuch in Domodossola am 25.April 2023 alle Läden geschlossen, immerhin die meisten Bars und Restaurant waren offen. Am Bahnhof versammelte sich eine grosse Gruppe von Menschen, viele davon eher ältere.

Jede italienische Stadt hat ihr Kriegsdenkmal, so auch Domodossola. Die Namen von über 120 jungen Männen, die im Ersten Weltkrieg gefallen waren, finden sich hier zusammen mit den rund drei Dutzend Namen aus dem Zweiten Weltkrieg. Aber dieses Denkmal ist nicht am Bahnhof. Hier befindet sich stattdessen ein Denkmal, das an die 44 Tage der Republik Ossola erinnerte, die vom 10.September bis 19.Oktober 1944 dauerte.
Es ist ein spezielles Kapitel der Geschichte, und sie hat enge Verbindungen zur Schweiz. Wer sich in Domodossola umschaut, stösst auch an anderen Orten auf die Spuren dieser Geschichte.
Im Herbst 1944 war es den verschiedenen Partisanenverbänden gelungen, die deutschen Besatzungstruppen und die italienischen Faschisten aus den Tälern rund um Domodossola – der Region Ossola eben – zu vertreiben. In fieberhafter Eile gründeten sie einen autonomen Staat: Die Republik Ossola und setzten eine Zivilverwaltung ein. Als Bürgermeister wurde Ettore Tibaldi (1887-1968) bestimmt. Tibaldi blieb auch nach dem Krieg in der Politik: Er war 1958-64 Vizepräsident des Senats in Rom und natürlich gibt es in Domodossola auch eine Strasse, die seinen Namen trägt.


Im Palazzo di Citta, also im Stadthaus sehen wir ein Schild, das auf den «Sala Storica della Resistenza ‚Ettore Tibaldi’» hinweist. Die Türe ist nur angelehnt, und wir verbringen ein paar Minuten hier: An den Wänden wird die Geschichte der Republik mit Text und Bildern erzählt, unter den Glasplatten der Tischabdeckung sind zahlreiche Dokumente aus jener Zeit zu sehen. Am Ende des Saales drei Fahnen, eine davon dürfte die Fahne der Republik Ossola sein. Im Innenhof ein weiteres Denkmal


Tatsächlich hatten die Partisanen in jenen Tagen versucht, eine Zivilverwaltung zu bilden. Dazu gehörten Parlamente und Dorfräte, eigenes Geld, Briefmarken und sogar eine eigene Zeitung. Man begann mit der Reorganisation des Justiz- und Erziehungswesens. Das kurze Experiment der Selbstverwaltung in der grössten befreiten Zone Italiens gilt als demokratische Keimzelle der späteren Republik.


Am 10.Oktober endete das hoffungsvolle Experiment, die Nazis marschierten mit starken Verbänden wieder in der Region ein. Dabei soll es auch zu einem denkwürdigen Zwischenfall an der Schweizer Grenze gekommen sein, lesen wir auf den Seiten von Wikipedia, die sich auf eine Tessiner Zeitung stützt, welche diese Geschichte aufgearbeitet hat. Er ist unter dem Namen Battaglia dei Bagni di Craveggia in die Geschichte eingegangen.
«Am 18. Oktober kam es beim Kurbad Bagni di Craveggia am Ende des Onsernonetals zu einem Grenzzwischenfall, als der Kommandant einer deutsch-italienischen Einheit vom kleinen Tessiner Grenzposten die Auslieferung der geflüchteten ‘Banditen’ verlangte und mit dem Einmarsch nach Spruga in die Schweiz drohte. Eine rasch herbeigeeilte verstärkte Schweizer Grenadierkompanie teilte ihm mit, es würden keine Flüchtlinge ausgeliefert und einem Angriff werde man sich mit Waffengewalt widersetzen. Daraufhin zog sich die faschistische Einheit zurück. Am 21. Oktober fiel im Val Formazza die letzte Verteidigungslinie.»
Soweit die Zusammenfassung – der Vorfall war allerdings dramatischer, als es zuerst den Anschein macht: Der Zeitzeuge Augusto Rima berichtete in verschiedenen militärgeschichtlichen Publikationen detailliert über den Vorfall, sie sind in der Zeitschrift ‚Schweizer Soldat‘ von 2015 zusammengefasst: Am 13.Oktober 1944, also nur Tage nach dem Ende der Republik Ossola, erreichte eine Gruppe der Partisanenbrigade Perotti den Ort Bagni di Crevaggia im hintersten Onsernonetal die Schweizer Grenze. Der Kommandant Filippo Frassati bat die Schweiz um Internierung gemäss Kriegsvölkerrecht. Dies wurde abgelehnt mit der Begründung, dass keine unmittelbare Todesgefahr bestehen würde. Die Zivilisten, welche die Partisanen begleiteten, durften die Grenze aber passieren, auch die verletzten Kombattanten. So gelangten 251 Personen in die Schweiz. Auf Schweizer Seite war aber auch ein Detachement von motorisierten Mitrailleuren bereit; sie halfen mit sichere Wege für die Flüchtenden zu bestimmen. Die faschistischen Truppen – etwa 200 Italiener verstärkt von deutschen Wehrmacht-Soldaten waren den Partisanen dicht auf den Fersen und eröffneten am 18.Oktober um 16.00 Uhr das Feuer. Innert kurzer Zeit verschossen sie über 25’000 Schuss, dabei stiessen sie nur auf eine schwache Gegenwehr. Einige Geschosse erreichten auch die Schweiz. Nun waren die Partisanen in Todesgefahr und die Schweiz musste sie passieren lassen. Einer der Offiziere, Federico Marescotti, wurde auf Schweizer Boden von einem Geschoss getroffen, er verstarb auf der Stelle. Um 16.55 trafen sich die Kommandanten an der Grenze, dabei soll der Kommandant der faschistischen Truppen ultimativ die Auslieferung der in die Schweiz geflüchteten Partisanen verlangt haben und zwar lebend, tot oder verletzt „…vivi, morti o feriti…“ Gegen Morgen kam die klare Antwort aus der Schweiz: Nein, die Partisanen würden nicht ausgeliefert. Gleichzeitig hatte die Schweizer Armee das Verteidigungsdispositiv im Onsernonetal verstärkt, die faschistischen Truppen zogen sich zurück.

Foto: Archivio fotografico Istituto storico Piero Fornara – Fondo Resistenza
Tatsächlich waren im Zweiten Weltkrieg Zehntausende von Zivilisten und Partisanen in die Schweiz geflüchtet, allein in der Zweiten Hälfte des Oktobers waren es 35 000. Sie wurden von den Schweizer Kantonen Wallis und Tessin aufgenommen. Dies in einer Zeit, in der man viele flüchtende Juden abwies und damit in den sicheren Told schickt. Bei der Lektüre der Unterlagen stossen wir auf zwei Namen: Auf Margherita Zoebeli un Gabriella Meyer, die vom Schweizer Arbeiterhilfswerk beauftrag wurden, den Grenzübertritt der Geflüchteten zu organisieren. 2500 Kinder wurden aufgenommen und auf die ganze Schweiz verteilt, davon zeugen eindrückliche Bilder.
Eine der beiden Frauen, Margaretha Zoebeli (1912-1996), hat einen Eintrag in Wikipedia; sie wird als Schweizer Pädagogin, Flüchtlingshelferin und humanitäre Aktivistin gewürdigt. Sie war die Tochter eines Gewerkschafters und hat sich als Jugendliche bei der sozialistischen Jugendorganisation Rote Falken engagiert. Nach dem Krieg gründete sich in Rimini das Centro Educativo Italo-Svizzero (CEIS), das auch nach der Bewältigung der ersten Not bis 1978 weiter existierte und als reformpädagogischen Pionierschule internationaler Ausstrahlung erlangte. Margaretha Zoebeli erhielt 1963 das Ehrenbürgerrecht der Stadt Rimini.

Bild Archivio Fotografico CEIS. Bibliothek Gambalunga.

Foto: Archivio fotografico Istituto storico Piero Fornara – Fondo Resistenza


Mythos Resistenza
Die italienischen Partisanen und ihre Geschichte sind naturgemäss Gengestand von intensiver Legenden- und Mythenbildung: Ähnlich wie in Deutschland hilft dieser Mythos mit, das Trauma vom faschistischen Mussolini-Staat an der Seite von Nazi-Deutschlands etwas zu lindern. Das Verhältnis zum Resistenza-Mythos wird auch als Lackmus-Test für die italienischen Regierungen verschiedener Epochen angesehen: „Der Resistenza-Mythos, der dem Nachkriegsitalien nach über zwanzigjähriger Diktatur eine neue antifaschistische Identität gab, trug maßgeblich zur Stabilisierung der Demokratie bei“, lesen wir in einer Arbeit von Thomas Walli aus dem Jahr 2015. Demgegenüber tut sich die gegenwärtige Premierministerin Giorgia Meloni schwer mit dem Widerstands-Mythos, der so gar nicht zu ihrer postfaschistischen Gesinnung passt, lesen wir in der NZZ vom 26.April 2023 in einer Betrachtung zum Tag der „Liberazione“.
Quellen
Andrej Abplanalp: Die Partisanenrepublik Ossola. Blog des Schweizer Landesmuseums vom 10.9.2017 / 29.01.2022.
Wikipedia: Partisanenrepublik Ossola, Margaretha Zoebeli, Ettore Tibaldi
Istituto Storico della Resistenza Novara-VCO
https://www.isrn.it
Fotoarchiv des CEIS an der Bibliothek Gambalunga
Schweizer Soldat I Nr. 11 I November 2015. S.50-51. Online unter: e-Peridiodica der ETH-Bibliothek.
Thomas Walli: Die getrennte Erinnerung. Der Resistenza-Mythos in Italien von 1943 bis heute: Ursprünge – Wandel – Ausblick. Innsbruck 2015. In: Historia Scribere.Open Access Publication. Zugang über Research Gate.
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Partisanen-Literatur – einen eigenen Beitrag gibts hier
