Das Anneli ist im Tösstal noch lebendig – Zum 50.Todestag von Olga Meyer

Sie war eine der erfolgreichsten Jugendschriftstellerinnen des 20.Jahrhunderts und hat mit ihrer Anneli-Trilogie aus dem Tösstal ihren grössten Erfolg: Olga Meyer. Am 19. Januar sind es 50 Jahre her seit ihrem Tod.

Es waren eigentliche Beststeller, welche Olga Meyer (1889 – 1972) schrieb. Dazu gehörten vor allem die drei Anneli-Bücher, deren erster Band 1919 erschien. Auch ihre anderen Bücher waren beliebt, so der Kleine Mock von 1925, das Buch Sabinli von 1953 oder Gesprengte Fesseln von 1963.

Als die erfolgreiche Autorin am 19.Januar 1972 starb, da waren allerdings ihre besten Jahre längst vorbei. Schon die Jugend der 1960er Jahre zu denen auch der Schreibende gehört, las andere Bücher: Die fünf Freunde von Enid Blyton, Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer von Michael Ende, Pippi Langstrumpf von Astrid Lindgren und natürlich Mickey Mouse und Donald Duck, die damals als Schundliteratur galten.

Es ist gar nicht so einfach, die Bücher von Olga Meyer heute aufzutreiben: Die Stadtbibliothek Winterthur bewahrt sie mangels Nachfrage in einem Aussenlager auf und hat einen Tag Lieferzeit. Bös sieht es auch im Buchhandel aus: Keines ihrer Bücher ist lieferbar.

Wird Olga Meyer heute noch gelesen? – Erna Hächler Henn war bis 2021 Lehrerin und Schulleiterin in Rikon. Sie ist als Kind einer Bauernfamilie in Unterlangenhard aufgewachsen: «Natürlich habe ich die Bücher von Olga Meyer als Kind gelesen, aber ich war eine Leseratte und habe eigentlich alles gelesen». Die Lebenswelt des Anneli war auch ihre Welt – mit dem Bauernhof, den Kühen, der Grossfamilie und den Geschwistern. Für sie war klar: Olga Meyers Bücher und darunter vor allem das Anneli gehören in die Schulbibliothek, die sie jahrelang betreute. Aber während ihrer ganzen Zeit in Rikon – die letzten 20 Jahre – hat nie jemand die Bücher ausgeliehen. Es ist die veraltete Sprache, der belehrende, moralisierende Ton, der heute abschreckend wirkt. «Die Jugend braucht etwas, nach dem sie streben kann», hat Olga Meyer einmal dazu gesagt. Damit kann man heute niemanden mehr anlocken.

Trotzdem ist die Autorin nicht vergessen. Das zeigte eine kleine Facebook-Umfrage, die der Schreibende in den letzten Wochen gemacht hat. Es meldeten sich vor allem Frauen und fast alle kannten das Anneli. Allerdings hatten nur die wenigsten die Anneli-Bücher gelesen. Sie bezogen sich fast ausnahsmelos auf ein Hörspiel des Schweizer Radios aus dem Jahre 1976, das während Jahren auch als Kassette vertrieben wurde und heute auf den Seiten von Radio SRF gratis online angeboten wird. Der Erfolg des Hörspiels ist nicht zuletzt den berühmten Stimmen zu verdanken, so sind hier unter anderem Ursula Schäppi als Anneli, Margrit Rainer als Mutter Lüssi, Jörg Schneider als Fabrikherr und in weiteren Rollen Paul Bühlmann und Valerie Steinmann zu hören, die Kinderrollen werden von Schülerinnen und Schülern aus dem Tösstal gespielt.

Olga Meyer als 20jährige ca 1910. Foto Wikimedia Commons.

Tatsächlich ist das Anneli neben dem Heidi von Johanna Spyri (1827 – 1901) die bekannteste Schweizer Kinderbuchfigur aus dem 20.Jahrhundert und die drei Anneli-Bücher sind in vielerlei Hinsicht bemerkenswert: Olga Meyer wurde in Zürich geboren und war bis zur Niederschrift des ersten Bandes «Anneli – Geschichte eines kleinen Landmädchens» gar nie im Tösstal. Im Buch erzählt sie die Geschichte ihrer Mutter Anna Barbara Lüssi, die um 1860 im Tösstal geboren wurde:  «Aber kannte ich es (das Tösstal) denn nicht schon lange? War ich denn nicht seit meiner Kindheit in diesem Tösstal daheimgewesen? Ich ging in diesem Dorf (gemeint ist Turbenthal) wie in meinem Kinderland ein und aus.» hat sie in ihren Erinnerungen im Jahr 1968 festgehalten.

Foto der Mutter von Olga Meyer ca 1890. Bild Museumsverein Turbenthal

Mutter Lüssi ist übrigens verwandt mit Hedwig Spahr-Lüssi (1900 – 1993), einer Zeitgenossin von Olga Meyer. Die beiden Frauen kannten sich und Hedwig Spahr-Lüssi hat Olga Meyer bei der Niederschrift von Band 2 und 3 der Anneli-Bücher unterstützt. Zunächst dachte sie nämlich gar nicht an ein Buch, sie hat die Geschichte ihrer Mutter als Lehrerin ihren Schülern erzählt. Ein Lehrerkollege entdeckte die Niederschriften und motivierte sie zur Herausgabe eines eigenen Buches. Von der warmen Beziehung zwischen den beiden Frauen zeugt ein Zitat aus einem Briefwechsel von Olga Meyer: «Mein liebes, gescheites Hedi Spahr. Du bist ein wahrer Professor und ein Lexikon obendrein – dazu eine prima Hausfrau, die unnachahmlich feine Birewegge machen kann und sie sogar verschenkt.»

Vieles in den drei Anneli-Bänden ist authentisch, viele Figuren sind historisch verbürgt. Anneli wächst in Turbenthal auf, ihr Vater stirbt bei einem Unfall mit einem Stier, was für die Familie eine Katastrophe ist. Wie alle anderen Kinder muss sie früh in die Fabrik arbeiten gehen. Die Beschreibungen der Fabrikarbeit gehen auch heute noch unter die Haut:

«Nun stand Anneli mitten in dem mächtig grossen, niederen Fabriksaal mit den vielen trüben, fest verschlossenen Fenstern. Maschinen rasselten, Spulen tanzten. Die Baumwollfäden drehten sich. Schwungräder sausten. Breite, braune Lederriemen durchbrachen singend Boden und Decke. Und zwischen dem Rasseln und Klappern und Sausen hindurch eilten Kinder und Erwachsene. Mit einem Kistlein Flocken (Baumwolle, lose auf Spulen gewunden), drückte sich der Bäre Jakobli an Anneli vorbei. Er lachte und sagte etwas. Anneli verstand ihn nicht. Mit heissen, roten Backen stand es mitten in dem Wirrwarr und staunte und schaute».

Die Arbeit in der Fabrik ist ein gewaltiger, schrecklicher Einschnitt im Leben des Kindes und es versteht die Welt nicht mehr. Pausen gibt es hier kein und gearbeitet wird bis um acht Uhr abends.

«Anneli wartete und wartete. Da griff Babettli plötzlich in die Tasche und steckte einen Brocken Brot in den Mund. Dann huschte es wieder unter die Maschine. Anneli sagte: ’Ich warte lieber bis zur Pause’. Babettli lachte hell auf ‘Meinst, wegen unseres Vesperbrotes werden die Maschinen abgestellt! Wir haben doch keine Pause, sind nicht mehr in der Schule!’. In Annelis Augen erlosch für einen Augenblick aller Glanz .»

Mit Hilfe der Grossmutter gelingt es Anneli schliesslich, der Fabrikarbeit zu entkommen. Sie kann zu einer Familie nach Zürich als Hausmädchen gehen.

Die Schilderungen der Fabrikarbeit gelten auch heute noch als authentisch und beeindrucken jüngere Leute. So hat sich zum Beispiel die Historikerin Giuseppina Beeli in ihrer Lizenziatsarbeit im Jahr 2007 unter dem Titel «Erzählte Industrialisierung» damit befasst und festgehalten, wie präzise Olga Meyer die Arbeit in der Fabrik beschrieben hat und wie gut die seelischen Auswirkungen dieser Kinderarbeit im Buch beschrieben sind.

Die Fabrik von Boller Winkler fotografiert im Januar 2022. Hier arbeitete das Anneli ca.1870. Foto Dominik Landwehr

Drei Jahre zuvor im Jahr 2004 hat Rahel Henn aus Rämismühle – die Tochter von Erna Hächler Henn – das Anneli als Thema für ihre Maturarbeit gewählt und neben der historischen Einordung eine Reihe von Illustrationen mit der Schabkarton-Technik gestaltet. «Ich war schon früher fasziniert vom lebendigen und starken Mädchen, das in einer mir fernen und unbekannten Welt lebte, obwohl die Geschichte in unserem Nachbardorf vor nicht mehr als 140 Jahren spielt.» Ihre Arbeit wurde 2005 vom Kanton Zürich ausgezeichnet. Rahel Henn arbeitet heute als Kinderärztin. Auch sie kannte die Geschichte wegen der Radio-Kassette, die ihre Mutter jeweils in der Bibliothek auslieh. Die drei Anneli-Bücher hat sie erst für ihre Matura-Arbeit gelesen. Ihre Illustrationen stossen auch heute noch auf Interesse und sollen in einem Buch von Bernadette Zemp über Kinderarbeit erscheinen. Es heisst ‘Fädlikinder. Von der Armut über die gestohlene Kindheit bis zum wirtschaftlichen Erfolgsfaktor’.

Anneli muss in die Fabrik. Illustration Rahel Henn.
Der Vater von Anneli verunfallt vor dem Haus. Illustration Rahel Henn.
Die Grossmutter unterstützt Anneli und hilft ihr, von der Fabrik wegzukommen. Illustration Rahel Henn.

Auch wenn nicht mehr viele ihre Bücher lesen, die Autorin ist in Turbenthal und Umgebung präsent: An der Ecke Tösstalstrasse/Girenbadstrasse steht ein Anneli-Brunnen mit einer Gedenktafel, er wurde 1962 erstellt. Die Tafel zu Ehren von Olga Meyer wurde ein Jahr später auf Initiative von Hedwig Spahr-Lüssi angebracht, sagt Renate Gutknecht vom Museumsverein Turbenthal.

Der Anneli-Brunnen in Turbenthal. Foto Dominik Landwehr
Gedenktafel am Anneli-Brunnen in Turbenthal. Foto Dominik Landwehr

 Im Oberstufenschulhaus Wila gibt’s eine Brunnenskulptur mit dem Sabinli, sie stammt aus dem Jahre 1965. Im kleinen Museum von Boller/Winkler im Fabrikladen wird auf einer Info-Tafel zur Industrialisierung die Anneli-Geschichte erwähnt.

Der Sabinli Brunnen beim Oberstufenschulhaus Wila. Foto Dominik Landwehr .

Der Nachlass von Olga Meyer befindet sich im Stadtarchiv Zürich. Aber im Lager des Museumsvereins Turbenthal sind einige bemerkenswerte Gegenstände. Dazu gehört eine einfache Holzkiste, die mit Geschenkpapier umhüllt ist. Es handelt sich um ein Original der Kiste, die im Anneli Buch beschrieben wird. Sie gehört dem Knecht Chueri: «Er konnte alles flicken und alles brauchen. Was die Kinder fanden, das brachten sie dem Chueri. Dafür machte er ihnen manche schöne Windhäspeli. Vielen Kindern hatte er auch schon kleine Holzschachteln geschenkt, die aussen und innen mit buntem, glänzendem Papier tapeziert waren». An Weihnachten arbeitete er immer an einer besonderen Vorführung seiner Sammlung, er nannte sie die ‘Kunst’. «Kein Mensch wusste was es war, bis am Weihnachtsabend. Dann ging er mit seiner Wunderarbeit von Haus zu Haus und zeigte sie überall herum».

Eine der Chueri-Kisten ist erhalten geblieben. Foto Museumsverein Turbenthal.

Auch Ursula Vetter aus Turbenthal hatte eine solche Wunderkiste, sie ist aber im Lauf der Zeit verloren gegangen. Aufbewahrt hat sie hingegen einen Brief ihrer Grossmutter, die eine Verbindung mit der Zeit des Anneli herstellt und zeigt, dass es viele Personen im Buch wirklich gegeben hat.In diesem Brief wird nämlich eine Person genannt, die auch im Anneli-Buch vorkommt: Der Gäggeli Chasper. In einem Brief ihrer Grossmutter Marie Bosshard an ihren späteren Ehemann Theodor Frei, vom 7. Februar 1892 wird von der Beerdigung von Gäggeri Chasper berichtet. «Gäggeli Chasper lag etwa drei Wochen krank an Wassersucht, und letzten Samstag ist er gestorben. Und Mittwoch war seine Beerdigung. An diesem Tag starb auch sein Bruder im Spital.» Die Episode im Buch ist nicht traurig: Es geht um die Frau von Gäggeli Chasper, die von einem Brettersteg in den Kanal fällt und nicht untergeht: «In ihrem Reifrock fuhr sie wie ein kleines Schiffchen auf dm Wasser dahin».

Marie Bosshard an ihren späteren Ehemann Theodor Frei, vom 7. Februar 1892. Bild Familienarchiv Ursula Vetter.

Die Bücher von Olga Meyer sind in der Gemeindebibliothek Turbenthal ausleihbar. Zur Erinnerung an Olga Meyer organisiert der Museumsverein am Wochenende vom 30.April/1.Mai einen Anneli-Erlebnisweg mit fünf Stationen. Der Olga Meyer Lesemarathon mit dem Buch Sabinli, der in der reformierten Kirche Turbenthal vorgesehen hatte, wird wegen der Pandemie auf den Herbst verschoben: Er findet am Mittwoch 28.September und Wochenende 1./2.Oktober statt

Das Radio Anneli-Hörspiel von 1976 ist online unter dieser Adresse:
https://www.srf.ch/audio/hoerspiel/anneli-von-olga-meyer-1-4?id=10351017

Die Stimme von Olga Meyer
https://www.srf.ch/kultur/literatur/das-kleine-anneli-erinnerungen-an-eine-vergangene-zeit

Eine leicht gekürzte Version dieses Artikels erschien am 18.Januar 2022 im Tössthaler auf fast drei Seiten. Hier gibts das PDF zum herunterladen.

Nachtrag vom 22.1.2022

Wer waren die Tösstaler Schülerinnen und Schüler? – Eine Frage, die ich bei meinen Recherchen nicht beantworten konnte. Am 20.1.2022 meldet sich aber Silvia Bosshard aus Wila, die in Neubrunn bei Turbenthal aufgewachsen ist mit folgender Ergänzung: Es war die Klasse ihrer 2021 verstorbenen Mannes Walter Bosshard ( 1945 – 2021), die hier 1976 mitgewirkt hatte. Er war von 1966-1968 an der Oberstufe Wila und dann von 1970 bis 2006  an der Primarschule Wila tätig.

„Im bekannten Hörspiel (das Olga Meyer übrigens selbst verfasst hat), wurden die Kinderrollen von SchülerInnen aus dem Tösstal gespielt, heisst es. Und das waren Wilemer Kinder, die Schüler von Walti. (der Mann von Silvia Bosshard). Unzählige Male mussten wir mit dem Stucki-Bus nach Zürich ins Radiostudio reisen. Natürlich nicht alle: Es war eine komplizierte Logistik. Die einen hatten in Wila Schule, ander hatten das Aufgebot. Walti konnte nicht immer selber mit, und so machte ich das einige Male. Unser kleine Matthias, wurde dann von Breitenmoseres gehütet. Darum weiss ich noch genau, wie es in dem Studio aussah, wie streng und manchmal ungeduldig Regisseur Inigo Gallo war, bis die Szene schliesslich ‚gstorbe‘ isch! In der Mittagspause gabs Picknick draussen, manchmal etwas Kleines  in der Kantine, und die Schüler weibelten um ein Autogramm von Hansjürg Bahl oder Jörg Schneider ect. … Es machte auch noch eine Laientheatergruppe aus dem Toggenburg mit für die Szene, als Anneli mit seiner Grossmutter deren alte Heimat besuchte. Die Hörspiel-Reihe erschien in zwei Staffeln, und auch die Aufnahmen waren auf zwei Jahre verteilt. Sendezeit war jeweils der Sonntagmorgen. Mitgemacht haben zum Beispiel Lilian Wagner-Bieri, Ueli Etter, Andi Frommel, Nicole Stucki vom Ägetswil (sie spielte das Liseli und die Profis hatten den Narren an ihr gefressen) Schon damals war die Klasse ein bisschen multikulti, und nur wer richtig gutes Züritüütsch sprach, durfte mitmachen. So musste Walti auch noch Schüler vom Thalgarten ‚ausleihen‘. Die Hauptrolle, das Anneli spielte Ursula Schäppi. Bei den Liedern, die ebenfalls im Radiostudio aufgenommen wurden, war die ganze Klasse dabei. Interessant ist es, wie damals zum Teil die Geräusche erzeugt wurden. Zum Beispiel dasRascheln von Laub: man stopfte die vielen unbrauchbaren Tonbandstreifen in einen Sack. Das gab ein ähnliches Geräusch.“

Eine Zuschrift erhalte ich auch vom pensionierten Journalisten Richard Clavadetscher, auch er hat den Artikel aufmerksam gelesen und findet, es hätte einen besseren Einstieg gegeben. Er schlägt folgende Variante vor:

„Geblieben sind zwei Brunnen. Einer steht an der Ecke Tösstalstrasse/Girenbadstrasse, der andere im Oberstufenschulhaus Wila. Sie verweisen auf die Schriftstellerin Olga Meyer (1889 – 1972). Heute ist sie fast vergessen, doch in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts war sie eine eigentliche Bestseller-Autorin, gelesen auch und gerade im Tösstal – mit gutem Grund…“