Der Korbmacher von Wila und ein Trucklichrämer aus Rikon

4500 Seiten dick und trotzdem gratis: Der Winterthurer Volkskundler Peter Bretscher hat ein Nachschlagewerk zur Landwirtschaftsgeschichte der Nordostschweiz geschaffen. Viele Zeugnisse darin stammen aus dem Tösstal und dem Zürcher Oberland

Ungewöhnlich ist dieses fünfbändige Werk gleich in mehrerer Hinsicht: Es ist gratis und kann sofort heruntergeladen werden. Es ist sehr anschaulich geschrieben und enthält Fotos und Illustrationen über 3000 Objekte. Das Buch, das es vorerst nur online gibt, ist das Abschiedsgeschenk des Winterthurer Volkskundlers Peter Bretscher, der 27 Jahre lang das Schaudepot St.Katharinental in Diessenhofen geleitet hat. Das ist eigentlich eine Art Museum zur Landwirtschaftsgeschichte der ganzen Region und beherbergt die volkskundliche Sammlung des Historischen Museums Thurgau.

Der offizielle Titel der Publikation lautet «Bäuerliche Arbeitsgeräte in der Nordostschweiz 1800–1950». Sie ist eine Art leicht lesbares Lexikon zur ländlichen materiellen Kultur der Nordostschweiz und fokussiert auf die Entwicklung und Nutzung bäuerlicher Arbeitsgeräte und Maschinen. Man staunt, wie vielseitig die Landwirtschaft in dieser Region war, dazu gehörten Obst- und Weinbau, Textilherstellung, Getreidebau und Viehzucht usw. Für den Autor war es wichtig, die Geräte in ihrem Kontext darzustellen, immer wieder sieht man Darstellungen von Mensch und Tier, da gibt es natürlich Gerätschaften für Kühe und Ochsen, Pferde und Hunde und Katzen aber auch Bienen und auch Fische und Kröten und Vögel jeglicher Art, dazu auch Wildtiere, Mäuse und Ungeziefer spielen eine Rolle. Der riesige Umfang mag auf den ersten Blick abschreckend wirken – die Publikation ist aber sehr anschaulich und lesefreundlich gestaltet und lädt zum Stöbern ein. Besonders wertvoll dürfte sie für Betreuer von Sammlungen sein, wie wir sie auch im Tösstal habe, etwa mit dem Ortsmuseum Wila oder dem Schaudepot des historischen Vereins Turbenthal.

Ein Schindelmacher bei der Arbeit. Die Weidenruten rechts im Bild werden zum Zusammenbinden der Schindelbeigen benutzt. Zürcher Oberland um 1900. Foto Schaudepot St.Katharinental. Historisches Museum Thurgau

Das Buch ist eine Art Bestandesaufnahme des historischen Wissens zur Landwirtschaftsgeschichte der Nordostschweiz. Viele Zeugnisse stammen nicht aus Museen und Sammlungen, sondern aus Privathaushaltungen und Nachlässen und sind das Resultat von fast 30 Jahren Sammeltätigkeit. Der grösste Teil der Objekte, die auch im Schaudepot St. Katharinental zu sehen sind, wurden der Institution geschenkt. Manchmal gabs dafür eine symbolische Entschädigung.

Wo liegen nun die Verbindungen zum Tösstal und dem Zürcher Oberland? Peter Bretscher holt für seine Antwort etwas aus: «Die volkskundliche Sammlung des Kantons Thurgau hat schon seit ihren Anfängen auch die angrenzenden Randgebiete der Kantone St. Gallen, Zürich und Schaffhausen in seinen Rayon miteinbezogen.» Ganz wichtig: Die Alltagskultur orientiert sich nicht an administrativen und politischen Grenzen, «über Heiraten bestanden oft enge verwandtschaftliche Beziehungen zum Thurgau und eine klare Trennung ist gar nicht möglich du auch nicht sinnvoll. Auch für die historischen Bildquellen war der Autor darauf angewiesen, etwas über die Grenzen des Kanton Thurgaus zu suchen.

Transport von Brennholz mit dem Hornschlitten im Fischenthal der 1930er Jahre: Der Lenker hält sich an den zwei Kufen oder Hörnern fest, lehnt gegen das gebundene Fuder und steuert mit den genagelten
Schuhen. Das Bündel hinten drosselt die Geschwindigkeit. Foto: Wilhelm Keller. Foto Schaudepot St.Katharinental. Historisches Museum Thurgau

Mit einer Stichwortsuche finden wir sofort Zeugnisse aus unserer Region: Das gilt zum Beispiel für das Handwerk der Köhlerei. Sie sei gerade im oberen Tösstal seit dem 18.Jahrhundert intensiv betrieben worden. Die Tätigkeit genoss kein hohes Ansehen und wurde vor allem in den Wintermonaten intensiv gepflegt, lesen wir im Kapitel. Sie wurde erst im 19.Jahrhundert wieder eingestellt.

Immer wieder geht es in diesem Werk um Geräte und Maschinen, die lange vor der eigentlichen Motorisierung zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in Gebrauch waren. Ein raffiniertes Gerät ist etwa der «Göpel», eine Vorrichtung zur Erzeugung von Kraft. Sie wird von einem Tier betrieben, das im Kreis herum geht und damit eine Antriebswelle antreibt. Mit der Kraft hat man Dreschmasinen, Strohschneidstühle, Rüben- bzw. Runkelmühlen, mechanische Schleifsteine, Obstmühlen, und Obstpressen usw. betrieben. Der Begriff «Göpel» hat sich im Dialekt erhalten, allerdings wird er heute für heruntergekommene Fahrzeuge aller Art benutzt. Als Maschinen aufkamen, hat man sie auch in unserer Region eingesetzt, etwa zum Heupressen. Die Maschinen gehörten entweder einem Heuhändler oder wurden genossenschaftlich betrieben, wie wir etwa auf einer Ansichtskarte aus Turbenthal aus dem Jahr 1921 sehen.

DIe landwirtschaftliche Genossenschaft Turbenthal hat wohl auch eine Heupresse benutzt. Wir sehen hier die Bauern beim so genannten Heuversand, das Heu wurde wieder unter den Besitzern aufgeteilt, nachdem es zu Ballen gepresst wurde. Das Foto ist auf das Jahr 1921 datiert. Foto H.Epper Turbenthal

Es sind nicht selten Ansichtskarten, die in der Publikation als Illustrationen genutzt wurden. Der Grund ist einfach: Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hatten Bauern kaum Fotoapparate. Natürlich mussten diese Bilder inszeniert werden, was aber ihren dokumentarischen Wert nicht schmälert. Das gilt etwa für ein besonders wertvolles Bild: Es zeigt eine Familie aus Rikon mit zwei erwachsenen Frauen und sechs Kindern beim Reinigen von Baumwolle: «Die Baumwollflocken wurden von Kindern gezupft und von den Samen gereinigt. Mann nannte das Erlesen. Sodann wurde die Baumwolle zum Karden ausgeteilt und gekardet, wodurch der Staub entfernt wurde und die Fasern eine Richtung bekamen. Dann wurde die Baumwolle abgenommen, zu Locken festgewickelt und so zum Spinnen am Rade zubereitet». Das Foto wurde für die Schweizerische Heimarbeiterausstellung in Zürich im Jahr 1909 hergestellt, es ging dabei auch darum die elenden Bedingungen dieser Heimarbeit zu zeigen.

Familie aus Rikon beim Reinigen von Baumwolle Anfang des 20. Jahrhunderts: Das Bild wurde für eine
Ansichtskarte für die Schweizerische Heimarbeiterausstellung in Zürich 1909 wohl arrangiert. Es sollte auf
die ärmlichen Bedingungen der Heimarbeiterinnen aufmerksam machen.
Foto Schaudepot St.Katharinental. Historisches Museum Thurgau

Ein Objekt, auf das man in der Sammlung besonders stolz ist, stammt ebenfalls aus Rikon. Es handelt sich um einen Tragkasten aus Holz, wie er von Hausierern benutzt wurde. Man nannte sie «Trückli-Chrämer». Die Hausierer stammten, so heisst es in der Bildlegende, hauptsächlich aus dem Kanton Tessin. Sie zogen durch die ganze Schweiz und brachten Stoffe, Kleider und Kurzwaren in entlegene Regionen. Gerne hätte man mehr über diese «Trucke» erfahren und wie sie nach Rikon gekommen war.

Die «Trucke» eines Hausierers mit zahlreichen Schubladen für Merceriewaren. Der Hausierer trug die Kiste auf dem Rücken und ging damit von Haus zu Haus. Die Trucke stammt aus Rikon und wurde wohl im 20. Jahrhundert verwendet. Foto: Meinrad Schade.

Zum traditionellen Handwerk, das vielerorts gepflegt wurde, gehörte auch das Korbmachen, für das «Korben», dafür wurden gerne Weiden- und Haselruten verwendet. Auch wandernde Hausierer pflegten die Korberei. Aus Wila stammt eines der schönsten Darstellungen davon: Es zeigt einen älteren Mann mit einem Handwagen voller Körbe.

Wandernder Korber und Hausierer mit seinem Karren. Die Korbmacherei wurde von Fahrenden, von Kleinbauern im Nebengewerbe als Hausindustrie aber auch von professionellen Korbmachern betrieben. Das Foto stammt aus Wila zu Beginn des 20.Jahrhunderts. Foto Schaudepot St.Katharinental. Historisches Museum Thurgau

Alles in Allem eine enorm faszinierende Sache. Peter Bretscher hat einen enzyklopädischen Blick. Es geht ihm buchstäblich um alles und er hat nichts vergessen. Eine seltene Tugend, man darf sich vom Umfang abschrecken lassen und sich an jenen Themen freuen, die einen interessieren.

Die umfangreiche Publikation entführt uns in die Welt unserer Vorfahren, die uns heute fremd und unbekannt ist. Es war eine Zeit ohne elektrisches Licht, ohne Autos, ohne Elektronik und vor allem ohne industriell hergestellte Massenprodukte. Was man zum Leben brauchte, machte man selbst oder kaufte es beim Handwerker. Die Welt am Vorabend der Industrialisierung war eine ländliche Welt. Aber der Wandel stand gleich vor der Haustür – Heimarbeit wie wir sie auf dem Foto mit dem Baumwoll-Erlesen aus Rikon sehen, bereitete der Industrialisierung den Weg. Und aus den kinderreichen Familien rekrutierte die Industrie ihre Arbeitskräfte, die nur wenig später massenhaft in die Fabriken strömten. Das Leben um 1800 war hart und einfach, aber die neue Welt der Industrialisierung war für die meisten unserer Vorfahren genauso hart. Der soziale Fortschritt mit geregelten Arbeitszeiten, Verzicht auf Kinderarbeit, mit Krankenkassen, Versicherungen und Altersvorsorge musste erkämpft werden.

Der Volkskundler Peter Bretscher hat während 27 Jahren die Sammlung landwirtschaftlicher Geräte aufgebaut und damit das Schaudepot St.Katharinental aufgebaut. Auch nach seiner Pensionierung engagiert er sich für die EInrichtung und leitet regelmässig Führungen

Fotos Dominik Landwehr

Das fünfbändige Werk gibt es vorerst nur digital; es kann auf den Seiten des Historischen Museums Thurgau gratis heruntergeladen werden – am Stück oder in fünf Teilbänden
Download über das Historische Museum Thurgau
oder die Kantonsbibliothek Thurgau

KASTEN

Die volkskundliche Sammlung des Historischen Museums Thurgau kann auf Voranmeldung hin besichtigt werden. Sie ist als Schaudepot im ehemaligen Kornhaus des ehemaligen Dominikanerinnenklosters St.Katharinental in Diessenhofen zu finden. Es umfasst 12 000 Objekte und ist auf vier Stockwerken auf insgesamt 2700 Quadratmetern ausgestellt. Eine der Hauptattraktionen ist das grösste erhaltene historische Holzfass der Schweiz.

Anmeldungen über die Website des Schaudepots St.Katharinental

Dieser Text erschien am Freitag 11.April 2025 im Tössthaler

Interview mit Peter Bretscher aus dem Jahr 2021: «Anfassen ist im Schaudepot erlaubt»