Kulturförderung hat Internet verpasst

Der Direktor der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia macht sich in der neusten Nummer der hauseigenen Zeitschrift „Passagen“ Gedanken über die Zukunft der Kulturförderung. Und sagt dabei Denkwürdiges wie etwa „Eine künftige Kulturpolitik wird ? nicht nur in einem multikulturellen Land wie der Schweiz ? die Vielfalt der Publika über die Vielfalt der Werke setzen. Sie wird Verstehen fördern statt hermetisches Schaffen.“ Und: „die Kulturförderung hat das Internet verpasst“.
Hier deshalb ein etwas längerer Auszug. Schön auch, dass sich die ganze Zeitschrift als PDF herunterladen lässt. Danke Pius Knüsel!


„Auf neue Phänomene eingehen heisst, die Gewichte neu zu verteilen. In einem derart strukturkonservativen, medial gut geschützten Sektor wie der Kulturproduktion wird das schwierig genug sein. Denn noch immer gilt: je mehr, desto besser. Institutionen zu schliessen ist undenkbar. Doch Verknappung wird im Interesse der Aufwertung und der substantielleren Förderung unumgänglich sein. Vieles können heute Private übernehmen; auch sie sind an Differenzierung interessiert.
Eine künftige Kulturpolitik wird ? nicht nur in einem multikulturellen Land wie der Schweiz ? die Vielfalt der Publika über die Vielfalt der Werke setzen. Sie wird Verstehen fördern statt hermetisches Schaffen. Sie wird das Einfache beherzigen ? kluge Botschaften müssen nicht kompliziert sein. Eine künftige Kulturpolitik wird die Beziehung zwischen Kunst und Bevölkerung von den Abnehmern her gestalten. Anbiederung an den Massengeschmack? Weit gefehlt. Beherrschung jener Medien, welche die kunstpassiven
80% der Bevölkerung beherrschen.
…die Kulturförderung hat das Internet verpasst. Mit nostalgischem Misstrauen betrachtet sie die Digitalisierung der kulturellen Produktion. Hörbücher sind ihr ein Graus. An der Downloadkultur für Musik schaut sie vorbei.Warum? Wäre nicht gerade das Internet jenes Medium, das sich hervorragend eignet, um die kulturelle Produktion in allen ihren elitären wie populären Formen mitsamt Erbe zugänglich zu machen in einen Medium, worin die Generation von morgen wie der Fisch im Wasser sich verhält? Wer je den iTunes-Musicstore von Apple benutzt hat, ist verblüfft ob der Einfachheit des Modells. Er oder sie begreift sofort, warum dieses Geschäftsmodell zum Erfolg wurde. Wer je diesen Musicstore als Schweizer besuchte, ist enttäuscht: Die Schweizer Musikproduktion ist praktisch nicht vorhanden. Auch wenn Apple verspricht, mehr Schweizer Musik aufzunehmen, wird es immer nur ein Bruchteil des Schaffens im Lande sein. Wäre es da nicht Aufgabe der Kulturförderung, eine umfassende Schweizer Download-Plattform zu gestalten? Nein, nicht als erzieherisch inspirierter Staatsverlag, sondern als Teil von iTunes(oder eines anderen kommerziellen Anbieters)!
Ich höre den Aufschrei bereits ? und doch: Das Vertragsmodell wäre zu erarbeiten. Es setzte bei den Kulturförderern allerdings ein neues Wissen voraus; es benötigt Kenntnisse von Distributionsmechanismen
und Ökonomie. Es wäre auch ein Abschied von zuweilen diskriminierenden Werturteilen. Ähnliches könnte für das Schweizer Kino, die Schweizer Literatur und Kunst gelten!
Letztes Jahr hat die Computerspiel-Industrie weltweit mehr umgesetzt als die Kinobranche. Diese Feststellung, die mehrfach durch die Medien ging, hat die Kulturverwaltung nicht erschüttert. Das Phänomen Computerspiel wird nicht einmal in den Analysen des Freizeitverhaltens der Schweizer abgerufen. Dabei ist klar, dass Computerspiele eine prägende Kulturform der Gegenwart sind. Dass jeder dritte Jugendliche sich intensiv damit beschäftigt. Und dass Games ganz wichtige Projektionsflächen sind für Verhaltensmodelle. Dass sie die Wahrnehmung prägen. Und ästhetische Modelle liefern. Warum gibt es keine relevante Schweizer Computerspiel-Produktion, kein Schweizer 3-D-Design? Und warum sind die intelligenten Spiele auf den Computern so rar? Ist es übertrieben, zu sagen, hier habe die Kulturförderung versagt ? wie sie den Comic 30 Jahre lang verpasst hat? Auf jeden Fall liefern Myst & Co. das schönste Beispiel, dass die Förderung nicht dort spielt, wo das Publikum.“
Quelle:
Pius Knüsel: Langes Werben. Zähler Widerstand. In: Passagen 3/2005. Eine Zeitschrift der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia. S.13/14. Die ganze Zeitschrift als PDF