Urs Hostettler erfand im Kalten Krieg ein Kreml-Spiel – Die Stasi verbot die Einfuhr in die DDR

Der Schweizer Urs Hostettler erfand 1986 ein Spiel, das die geheimen Vorgängen im Kreml parodierte und vor allem  in Deutschland gerne gespielt wurde. Wenig Freude daran hatte die Staatssicherheit Stasi der DDR: Sie verbot die Einfuhr des harmlosen Spieles.

Im Sommer 2022 verbreitete das deutsche Bundesarchiv auf dem Twitter Kanal StasiUnterlagenArchiv eine merkwürdige Nachricht aus dem Jahr 1988. Demnach sollten die Beamten der DDR die Einfuhr von zwei Spielen aus der Schweiz unterbinden. Es ging dabei um das Brettspiel «Kreml» sowie dessen Computerversion für Atari ST aus dem Schweizer Kleinverlag «Fata Morgana Spiele». Begründung: «Der Inhalt dieser Spiele widerspricht auf Grund der antisowjetischen Aussagen den Interessen der DDR».

Der Autor des Spiels ist auch heute noch aktiv und deshalb schnell gefunden: Urs Hostettler, 73jährig. Er studierte Mathematik und ist Musiker, Autor, Künstler mit vielen Interessen – so hat er in den 1970er Jahren eines der ersten grossen Open Airs der Schweiz organisiert und und 1982 eine Musiker-Genossenschaft mitbegründet. Seine grosse Passion sind Spiele:  1985 eröffnete er  den Berner Spieleladen „DracheNäscht“, den es heute noch gibt.

Urs Hostettler mit seinem Kreml-Spiel. Das Foto entstand im Sommer 2022. Foto Dominik Landwehr

Heute lebt er in der warmen Jahreszeit in seinem Sommerhaus am Murtensee und hier erzählt er die ganze Geschichte, die sein Spiel in den Fokus der Stasi brachte.  Anfang der 1980er Jahre hatte Urs Hostettler mit dem Entwickeln von Spielen begonnen.  Bei einer Genossenschafts-Arbeitswoche der Fata Morgana im Jura entstanden zusammen mit dem Kabarettisten Joachim Rittmeyer das Lebenssituationen-Spiel «Schicksack» und  das parodistische «Wahlspiel» zum Thema Demokratie und Wahlen.

Cover des Kreml-Spiels. Bild Urs Hostettler/Fata Morgana

Parodie auf das Politbüro

So fiel der Blick von Urs Hostettler auf den Kreml – in jenen Jahren hatten auch dort alte Männer das Sagen, einige verschieden kurz nach der Amtsübernahme. : Im November 1982 starb der 76-jährige Leonid Breschnew. Juri Andropow, sein Nachfolger starb bereits im Februar 1984 im Alter von 70 Jahren. Danach übernahm der 73jährige Konstantin Tschernenko, aber schon im Januar 1985 verschied auch er. Dann kam der damals junge Gorbatschawow. Vor diesem realen Hintergrund wurde dann die definitive Spielidee enwickelt.Im Spiel «Kreml» geht es um das Schicksal der sowjetischen Führungsschicht. Alle Mitglieder des Politbüros, des Führungsgremiums der kommunistischen Partei, sind zu Spielbeginn schon über 50 und werden über zehn Spielrunden verschiedenen Herausforderungen ausgesetzt. Natürlich ist alles eine Parodie, was sich zum Beispiel in den Namen der Kandidaten für das Politbüro zeigt: da gibt es einen Viktor Wasolin, einen Diwan Palavrian, Igor Dobermann, Leonid Bungaloff, Lech Schukrutoff oder Nestor Aparatschik. Frauen gab es nur eine: Ludmilla Patina.

Die Spielfiguren des Kreml-Spiels. Bild Urs Hostettler/Fata Morgana

Jeder Spieler hat 1 bis 10 Punkte und kann damit die Mitglieder des Politbüros, die zu Beginn des Spieles nach dem Zufallsprinzip bestimmt werden, beeinflussen. Das Spiel beginnt im Jahr 1951 und hat acht Phasen: Die erste Phase beginnt harmlos: Alle Politbüromitglieder werden befragt, ob sie zur Kur wollen. Wer krank ist und sich nicht zu einer Kur entschliesst, erhält einen Strafpunkt, wird ein Jahr älter, damit verschlechtert sich auch sein Gesundheitszustand, der anhand einer Tabelle ermittelt wird. . In weiteren Phasen wird es drastischer, es geht um Säuberungen durch den russischen Geheimdienst, Untersuchungen durch den Verteidigungsminister und das Politbüro…

So geht das weiter bis zur Oktoberparade zum Jahresabschluss, danach beginnt es wieder von vorne. Das Spiel ist zu Ende, wenn der Parteichef drei Oktoberparaden abgenommen hat. Nun müssen alle Spieler ihre bisher geheimen Einflüsse aufdecken, wer am meisten Einfluss auf den amtierenden Parteichef gesetzt hat, gewinnt.

Gorbatschow habe das Spiel gemocht

‚Kreml‘ war in der Schweiz ein Geheimtipp unter Spiele-Fans. Noch mehr Erfolg hatte es in der BRD, Schon bald interessierte sich der renommierte amerikanische Spieleverlag Avalon Hill für das Spiel und brachte pünktlich zum Gorbatschow-Besuch in den USA eine englischsprachige Version heraus. Auch eine japanische Version des Spieles existiert, nicht ohne Stolz zeigt Hostettler sein Belegexemplar, von dem er allerdings nur einige Jahreszahlen und seinen eigenen Namen entziffern kann.

«Kreml» wurde 1987 vom zweitgrössten deutschen Spielmagazins «Pöppel-Revue» zum Spiel des Jahres nominiert und erhielt im gleichen Jahr den begehrten «Goldenen Pöppel», den Publikumspreis Spielegmagzins. Auch die Schweizer Medien besprachen das Spiel.

Nicht ohne Zwischenfälle

In den Spielregeln von «Kreml» heisst es, das Spiel lasse sich auch auf andere Länder übertragen zum Beispiel auf den Vatikan oder auf die USA: schliesslich war auch der damalige US Präsident Ronald Reagan schon 76 Jahre alt. Ein Journalist erwähnte das in seiner Besprechung. Sein Chefredaktor, erzählte Hostettler in einer Anekdote, wollte das nicht gedruckt sehen, es sei amerikafeindlich. Er hätte die Druckerpresse anhalten lassen, um die entsprechende Stelle noch zu ändern, erzählt Urs Hostettler.

Auch in der Schweizer Botschaft in Moskau sei das Spiel gerne gespielt wordenb, berichtet Urs Hostettler. Die Botschaftsmitarbeiter  zeigten es auch den Gesprächspartnern im Kreml und man amüsierte sich gemeinsam. Dabei sei auch Parteichef Gorbatschow aufgetaucht, habe sich für ‚Kreml‘ interessiert und habe seinen Spass daran gehabt.

Eines der erfolgreichsten Spiele der Gegenwart: Anno Domini. Bild Urs Hostettler/Fata Morgana

Urs Hostettler hat auch danach weitere Spiele entwickelt – darunter das Spiel «Anno Domini» aus dem Jahr 1998. Im Spiel geht es darum, geschichtliche Ereignisse in die richtige Reihenfolge zu bringen, die richtigen Jahreszahlen sind jeweils auf der Rückseite:  Beispiel: «Ernst Litfass stellt in Berlin seine erste Werbesäule auf (1855) – Pulverjoghurt wird patentiert (1979) – der erste Düsenhubschrauber ist serienreif (1953)». Das Spiel wurde zu einem eigentlichen Grosserfolg: Es gibt heute 33 Ausgaben mit über 10 000 Fragen und Spielsets zu den unterschiedlichsten Themen: Kirche und Staat, Schweiz, Sex & Crime, Essen & Trinken, Fussball, Gesundheit, Kuriositäten. Vor einigen Monaten kam «Anno Domini Black» heraus: «Ein Spiel voller düsterer Ereignisse mit Katastrophen, Seuchen, grausamen Todesfällen sowie menschlicher Niedertracht und daher für Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren nicht geeignet», heisst es in der Ankündigung. Total wurden bisher 950 000 Spiele verkauft. Das erfolgreichste Einzelspiel war aber «Ein solches Ding»: Es ist ein Ratespiel mit Karten, die Attribute enthalten. Gesucht wird nach einem Objekt zu dem diese Attribute passen. Mit den Jahren wurde es nun von Tichu aus dem Jahr 1991 übertroffen. Ein scheinbar einfaches Kartenspiel, das von chinesischen Vorbildern inspiriert ist. Es ist in über 300 000 Exemplaren weltweit verbreitet und auch in der Schweizer Spielszene beliebt

Was ist das Geheimnis des Spielerfinders Urs Hostettler? Spricht man ihn darauf an so , wird klar: Man muss selber ein begeisterter Spieler sein, Freude am Ausprobieren,  am Erfinden und am gemeinsamen Entwickeln von Mechanismen und Regeln haben . Im Fall von Urs Hostettler kommt ein Interesse am Tagesgeschehen und an Politik aber auch ein ironischer Blick auf unsere Gegenwart dazu.

Spieleverlag Fata Morgana
www.fatamorgana.ch

Homepage Urs Hostettler
https://urs.fatamorgana.ch

Der Artikel erschien am 22.September 2022 bei SwissInfo in total 8 Sprachen.

Die Stasi-Akte zum Kreml-Spiel.