Israel im Gedächtnis meiner Generation

Bildlegende: Orthodoxe Juden eilen zum Gebet an die Klagemauer – bewaffnete Soldaten sind in der Altstadt von Jerusalem omnipräsent. So auch hier neben dem österreichischen Hospiz an der Via Dolorosa. Foto Dominik Landwehr 2012.

In wenigen Wochen begeht Israel den 70.Jahrestag seiner Gründung: am 14.Mai 1948 deklarierte der erste Staatspräsident David Ben Gurion die Unabhängigkeit. Israel und der Nahe Osten haben in meiner Generation – ich bin 1958 und damit genau zehn Jahre nach der Gründung des Staates geboren – eine grosse Rolle gespielt.

Der neue Staat Israel war endlich eine Heimat für die jahrhundertelang verfolgten Juden. Der Zweite Weltkrieg und damit der Holocaust und die Ermordung von sechs Millionen Juden lag nur wenige Jahre zurück. Meine persönlichen Erinnerungen setzen in den 60er Jahren ein: Die Schweiz fühlte sich solidarisch mit dem jungen Staat, der sich vom ersten Tag an militärisch verteidigen musste. Tatsächlich erklärte noch in der Nacht der Gründung eine Reihe von Staaten Israel den Krieg. Schweizer Politiker und Offiziere studierten die Strategien Israel und reisten nicht ohne Bewunderung dorthin.  Die Jugend der 60er Jahre – zu der ich noch nicht gehört – reiste aus anderen Gründen gerne nach Israel: Arbeit im Kibbuz war angesagt,  und ich denke, es ging dabei nicht nur um ideelle Unterstützung sondern um gemeinsame Erlebnisse bei der Arbeit tagsüber und in der Freizeit; dass sich dabei auch die eine oder andere Liebschaft ergeben hat, nehme ich an und auch, auch der eine oder andere Joint dürfte abends am Lagerfeuer die Runde gemacht haben.

Die Rollen waren in dieser Zeit klar verteilt und die Bösen waren die Araber. Die Feinde Israels waren auch unsere Feinde: Das bestätigte sich auf furchtbare Weise am 18.Februar 1969 als ein Kommando von palästinensischen Attentätern am Flughafen Zürich-Kloten eine El-Al Maschine in ihre Gewalt zu bringen versucht und dabei den israelischen Kopiloten erschoss. Der israelische Geheimagent Mordeachai Rachamin tötete darauf einen der arabischen Attentäter. Er wurde zusammen mit den drei überlebenden Attentätern verhaftet. Mein Vater Wilfried Landwehr war damals Gerichtsschreiber am Zürcher Geschworenengericht, das Attentat und der nachfolgende Prozess waren Gespräch am Familientisch. Das Zürcher Geschworenengericht hat den israelischen Agenten freigesprochen. Für meinen Vater –  er starb 2016 – war es ein politisch motivierter Freispruch. Die inhaftierten Attentäter kamen übrigens wenig später im Austausch gegen die Passagiere einer entführten Swissair-Maschine frei. Mein Vater nahm dies damals persönlich, sah er sich doch um die Früchte seiner Arbeit geprellt.

Die Hintergründe des palästinensischen Terrors kannte ich damals allerdings nicht. Man sprach auch nicht von Palästinensern, sondern pauschal von Arabern. Ich lernte mehr erst durch eine Reise in die Region. Nie vergessen werden ich einen Spaziergang durch die historische Altstadt von Hebron, zu dem mich der Radiojournalist Martin Heule mitgenommen hatte. Der malerische Bazar wirkte gespenstisch und menschenleer und nach oben waren merkwürdige Sichtblenden angebracht, welche die ohnehin schon prekären Lichtverhältnisse verschlechterten. Die Begründung hört sich wie ein schlechter Scherz an: Jüdische Siedler hatten in den letzten Jahren die oberen Stockwerke des Marktes gekauft und bewerfen die Palästinenser im Bazar, denen die unteren Stockwerke gehörten,  mit Abfall. Kein Wunder, gerät gerade diese Stadt in der Westbank immer wieder in die Schlagzeilen. Eine eigene internationale Beobachtermission kümmert sich übrigens nur um diese Zwischenfälle

Man könnte dem nun entgegenhalten: Der Terror der Palästinenser, die Raketen der Hamas, die Messerattacken in jüngerer Zeit. Nur soll man sich nicht täuschen: Der Konflikt in Israel ist asymmetrisch. Für einmal ist es der kleine Staat Israel, der auf der stärkeren Seite steht und nicht davor zurückschreckt, seine geballte Militärmacht in diesem Kampf zu entfesseln. Und genau das weiss man auf der Gegenseite: Es gibt kaum etwas, was in diesem Kampf nicht instrumentalisiert wird. Traurige Tatsache: Auch den Bildern ist nicht mehr zu trauen. Hier wird auf allen Seiten getrickst und inszeniert, dass sich die Balken biegen.

Und doch: Das ehemals britische Protektorat, auf dem der Staat Israel entstand, war ja nicht unbewohnt. Hier lebte die Volksgruppe der Palästinenser. Ein Teil von ihnen erhielt die israelische Staatsbürgerschaft, aber sehr viele wurden vertrieben. Die Palästinenser haben einen eigenen Namen für den Gründungstag des Staates Israel – sie nennen ihn Nakba – die Katastrophe.

Jüdische Siedler hatten sich seit dem Ende des 19.Jahrhunderts vermehrt niedergelassen. Ein Grund dafür waren die antisemitischen Pogrome in Russland. Es folgten weitere Einwanderungswellen. Kriegerische Auseinandersetzungen zwischen jüdischen Siedlern und palästinensischen Einwohnern gab es übrigens schon vor der Staatsgründung. Als Sündenfall gilt aber nicht die Staatsgründung, sondern der Sechstagekrieg, die Besetzung der Westbank und des Sinais – letzterer wurde in der Zwischenzeit an Ägypten zurückgegeben. Die Siedlungen in den besetzten Gebieten gelten als völkerrechtswidrig. Kritische Stimmen zu dieser Besetzung gab und gibt es auch in jüdischen Kreisen und namentlich auch in Israel. Uri Avnery ist eine davon, der Schriftsteller Nir Baram eine andere, der Historiker Tony Judt (1948 – 2010), eine weitere. Warum Sündenfall: Jetzt war Israel zu einer Besatzungsmacht geworden. Zu den kritischen Stimmen aus Israel zählt der Schriftsteller David Grossman, der in diesem Jahr mit einem der wichtigsten israelischen Kulturpreise geehrte worden war. Seine Worte haben Gewicht. Er sagte an einer Jubiläumsfeier für Israel: „Wenn die Palästinenser keine Heimat haben, werden auch die Israeli keine haben“.

Trotzdem: Israel ist der einzige demokratische Staat im Nahen Osten und wohl der einzige Staat der Welt, der es fertig gebracht hat, eine tote Sprache zum Leben zu erwecken. Mein Grossvater Gottfried Widmer (1890 – 1963) war protestantischer Pfarrer, seine Leidenschaft galt aber den orientalischen Sprachen: Hebräisch, Arabisch, Aramäisch (die Sprache Jesu) und Syrisch und er schaffte es irgendwie, neben seinem Amt noch drei zweistündige Vorlesungen an der Uni Bern zu halten.Zwischen 1929 und 1960 hatte er nicht weniger als 120 Kurse gegeben, sie finden sich fein säuberlich in den Vorlesungsverzeichnissen der Universität Bern.  Er starb, als ich erst fünf Jahre alt war und  ich stelle mir manchmal vor, wie ich ihn im Traum besuche und mit ihm über die Welt des Nahen Ostens reden würde. Worüber würden wir uns unterhalten, was würde ich ihn fragen, was hätte er mir zu berichten? – Über die Enttäuschung vieler Menschen in Israel und anderswo über das, was aus ihren Visionen geworden ist? – Über die  kritische Stimmung gegenüber Israel in der Schweizer Bevölkerung heute im Vergleich zu 1965? –  Über die nicht endend wollende Gewalt im Land und in der ganzen Region? – Vielleicht würde ihn das gar nicht so überraschen: Schon 1938 hat er festgehalten, dass die Welt, die auf den Trümmern des osmanischen Reiches und des britischen Empire entstand eine unruhige Welt war.

Dass es in der ganzen Region so schlimm kommen würde, wie wir heute in Syrien erleben, das hat er wohl kaum vorausgesehen und dass der Antisemitismus weltweit und namentlich in Frankreich und Deutschland wieder auf dem Vormarsch war, hätte ihn genauso entsetzt wie mich. Israel kann und muss kritisiert werden. Aber wer die zunehmendem antisemitischem Übergriffe namentlich von jungen Migranten in Deutschland und Frankreich mit der Unterdrückung der Palästinenser erklärt, begeht einen groben Fehler. Es sind gefährliche Rückfälle in die alten Muster von Rassismus und Verfolgung und sie müssen mit aller Entschlossenheit bekämpft werden. Und dieser Antisemitismus wird nicht selten von staatlicher Propaganda gelenkt, die aus Ländern kommt, deren Sprache im Westen nur wenige verstehen.