Gondo am Simplon, 10.Oktober 1944 – Flüchtlinge aus Italien überschreiten die Schweizer Grenze

Ein Bild aus dem Zweiten Weltkrieg, dessen Veröffentlichung von der Zensur in der Schweiz verboten wurde. Heute liegt es in den Beständen des Ringier-Bildarchivs im Staatsarchiv Aarau.

Eine Gruppe von Zivilisten, die meisten davon jüngere, auf einem Weg. Im Hintergrund unscharf ein paar Soldaten. Die Gruppe besteht aus Männern mittleren Alters, Kinder und Jugendliche, eine Frau ist knapp erkennbar. Auf der Bidllegende lesen wir: Flüchtlinge aus Italien, Val d’Ossola 1944 beim Grenzübertritt in Gondo, 10. Oktober 1944. Die Flüchtlinge wirken nicht verängstigt, sie scheinen unverletzt zu sein, da und dort ist sogar ein Lächeln oder mindestens ein entspannter Gesichtszug zu erkennen.

Was wissen wir zum Kontext? Zunächst zur Geografie: Gondo liegt am Simplon unweit der Schweizer Grenze, es ist aber nicht im Ossolotal. Bis zur Gabelung der Täler sind es 22 km – und die Flüchtlinge kamen ja aus dem ganzen Ossolatal, das wiederum noch mindestens 30 Km weiter geht…. vielleicht haben sie Partisanen bis zur Grenze gebracht, vielleicht sind sie einen Teil der Strecke marschiert, das Schuhwerk und die Hosen deuten darauf hin. Wir wissen es nicht.

Was wir hingegen wissen ist der Kontext: In der Gegend des Ossolotals gab es im Sommer und Herbst 1944 Kämpfe zwischen den den Truppen der italienischen Faschisten, verstärkt durch deutsche Wehrmachtsoldaten. Im September gewannen die Partisanen die Oberhand und gründeten ein autonomes Staatsgebiet, die Republik Ossola. Wir haben diese Geschichte im letzten Beitrag detaillierter nachgezeichnet. Zehntausende von Zivilisten und Partisanen flüchteten in diesen Tagen in die Schweiz, allein in der Zweiten Hälfte des Oktobers waren es 35 000. Sie wurden von den Schweizer Kantonen Wallis und Tessin aufgenommen. Dies in einer Zeit, in der man viele flüchtende Juden abwies und damit in den sicheren Tod schickt. 

Auf dem Bild ist ein deutlicher Stempel angebracht: „Veröffentlichung verboten – PUBCLICATION INTERDITE – Abteilung Presse und Funkspruch. Auch auf der Rückseite wird das Verbot wiederholt – verfügt von einem Oberst Passavent am 17.Oktober 1944, eine Woche nachdem das Bild gemacht wurde. Warum das Verbot? – Nun es war Krieg und die Zeitungen mussten ihre Meldungen von der Zensurbehörde genehmigen lassen. Warum hat sie in diesem Fall eine Publikation verboten? – Ohne Einblick in die Akten zu haben, die es auch in diesem Fall wohl gibt, ist man auf Mutmassungen angewiesen: Die Schweiz hat den Grenzübertritt der Zivilisten aus Italien wohl als Meldung taxiert, die man nicht in den Medien sehen wollte, wohl um den Nachbarn zu schonen. Die Faschisten hätten das als Parteinahme auslegen können.

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Flüchtlinge aus Italien, Val d’Ossola 1944 beim Grenzübertritt in Gondo, 10. Oktober 1944. (Ringier Bildarchiv – Staatsarchiv Aargau)
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Bildlegende: Rückseite des Abzugs mit den Flüchtlingen an der Grenze in Gondo, 10. Oktober 1944.
(Ringier Bildarchiv – Staatsarchiv Aargau)

Die Abteilung Presse und Funkspruch APF war im Zweiten Weltkrieg des Zensurorgan der Schweizer Regierung. Damals wurde zwischen einer Vor- und einer Nachzensur unterschieden: Für Textmeldungen galt die Nachzensur, für Fotos die Vorzensur. Im Kalten Krieg war die APF ein Instrument des Bundesrates zur Information der Bevölkerung in ausserordentlichen Lagen – dann, wenn die zivilen Medien ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen konnten. Zahlreiche Medienschaffende leisteten hier ihren Dienst, so auch der Schreibende. Ende 2004 wurde die Abteilung Presse und Funkspruch, auch bekannt als Armeestabsteil 500, abgeschafft.

Wie kam das Bild ins Staatsarchiv Aarau? – Es gehört zu den Beständen des Ringier-Bildarchivs, das 2009 vom Staatsarchiv Aargau übernommen wurde, nachdem sich der Ringier Verlag davon trennen wollte und es auch nicht als historisches Archiv weiterführen wollte. Das Bild gehört aber zu einem anderen Bestand nämlich zum Bestand der Agentur Theodor Pfister. Diese Agentur wurde 1937 von Arnold Theodor Pfister gegründet und 1962 an Ringier verkauft. Darauf weist ein schwach sichtbarer blauer Stempel auf dem Bild hin.

Was machen wir nun mit dieser Information? Es scheint, dass die Agentur ATP das Bild 1944 gekauft hat oder hat machen lassen, möglicherweise von einem Tessiner Fotografen. Dessen Namen kennen wir nicht.

Literatur
Ernst Bollinger; Georg Kreis: „Zensur“, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 25.01.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/024656/2015-01-25/, konsultiert am 02.05.2023.

Partisanen-Literatur – einen eigenen Beitrag gibts hier