Das Flurnamenbuch Safiental von Mattli Hunger als Open Access online

Seit Ende 2022 ist das Buch mit den Orts- und Flurnamen des Safientals von Mattli Hunger als Open Access online. Im Sommer 2022 erschien auch eine Print-Neuauflage des 2013 erstmals veröffentlichten Werks.

Unser Bild zeigt die hinterste Siedlung im Talabschluss des Safiental, der Blickrichtung Osten. Der kleine Weiler trägt den Namen «Zhinderst». Es ist nicht ungewöhnlich, dass für die Bezeichnung von Orten sprechende Namen verwendet wurden. Andere Orte heissen «zoberscht», «zusserscht» und «zunderscht». Der Teufel liegt auch hier im Detail, denn die Namen sind mündlich überliefert. Im Buch gibt es aber ein «Zhinderst» und ein «zinderscht» für unterschiedliche Orte.

Blick auf den Talabschluss des Safientals mit dem Weiler „Zhinderscht“. Foto Dominik Landwehr

Der Churer Volkskundler Mattli Hunger hat diese Namen in jahrelanger Arbeit zusammengetragen. Dass er selber 1938 im Safiental geboren wurde, half ihm natürlich dabei. Was hat ihn dazu bewogen, diese aufwendige Recherche zu unternehmen? – Im Vorwort schreibt er dazu selber:

«Flurnamen sind ein Teil der Geschichte eines Tales, eines Dorfes, einer Gegend. Sie geben viele wertvolle Aufschlusse über die Besiedlung und die Bewirtschaftung, aber auch über den Wandel im Laufe der Zeit. Obwohl sie vielfach über Jahrhunderte Bestand haben, sind auch die Flurnamen einem steten Wandel unterworfen. Bei aufgegebenen Höfen sind die Flurnamen oft noch die einzigen Zeugen einer früheren Bewirtschaftung. Bei Meliorationen werden viele kleinere Einheiten mit eigenen Namen zu grossen Parzellen zusammengelegt, nicht mehr benötigten Stalle zerfallen und nur noch die Hofstätten erinnern an die einstigen Gebäude. In den amtlichen Verzeichnissen sind diese kleinräumigen Namen nicht mehr aufgeführt und gehen verloren.»

Die Vielfalt der dokumentierten Namen ist enorm – die Herleitung der Namen überraschend: Der Name «Büel» weist auf einen Hügel hin und es gibt unzählige Ensprechungen für diesen Begriff: «Bortbüel, Brennlibüel, Brügglibüel, Chalberbüel, Chändelbüel, Chilchabüel, Chrummbodabüel, Chrüzlibüel». Eine Vertiefung heisst «Loch» – auch hier in zahlreichen Variationen: «Fröschäloch, Függschäloch, Geissloch, Gitziloch, Hasälöcher, Hüüschiloch, Müüschäloch, Pfaffaloch, Schinterloch, Schletterloch, Schopfloch, Summerloch.»

Die Kirche des Weilers Thalkirch. Foto Dominik Landwehr

In den Flurnamen spiegelt sich die Geschichte des Tales: Einer der verbreitesten Namen ist «Rüti». Er weist auf die Rodungstätigkeit der Walser hin, die im Mittelalter ins Tal einwanderten. Interessant ist der Name «Rossboden», der nur wenige Male vorkommt, denn auch vor der Mechanisierung der Landwirtschaft gab es im Safiental nur wenige Pferde. Einen Rossboden gibt es zum Beispiel auf der Grossalp und auf der Camaneralp. Nicht weniger als Neunmal kommt in den Namen der Hinweis auf das Kalkbrennen vor – so etwa im Name «Chalchofa» oder «Chalchgruaba». Flurnamen zeugen auch von früheren Besiedlungen, die im Lauf der Zeit aufgegeben wurden, so etwa bei «underschta Brand, mittlischt Brand, oberscht Brand, Flua, Ggampel und Wòòld». Steile Wildhänge, die extrem schwer zu bewirtschaften waren, hiessen «Trischta, Trischtbett, Trischtel, Trischtaläärch, Häuriss, Häutobel». Im Safiental wurde sehr lange Einzelsennerei betrieben – das führt zu einer grossen Zahl von Gebäuden auf den Alpen. Sie heissen im Walser Dialekt «Hütta, Stupli und Stall». Auf der Tenner Alp gibt es zum Beispiel  «Oberhütta, Underhütta, Allmeinihütta», wobei der Name «Allmeinhütte» auf eine gemeinsame Nutzung hinweisen könnte.

Ich hatte das Vergnügen, Mattli Hunger am 9. November 2021 in Chur zu interviewen. Im Gespräch erzählte er auch von seinem jüngsten Projekt. Nachdem er jahrelang Ortsnamen erforscht und 2013 in Buchform publiziert hatte, ging er ans Sammeln von Fotografien aus dem Safiental. Er hat Tausende von Fotos zusammengetragen. Ein Teil der Fotos sind heute auf der Website der Fotostiftung Graubünden in einer eigenen Sammlung «Bildarchiv Safiental» zugänglich.  

Mattli Hunger, der auch der Gründer und erste Kurator des Heimatmuseums Safien ist, erhielt 2014 den Anerkennungspreis der Stiftung Martin-Peter Enderlin. Er hätte für sein lebenslanges, freiwilliges Schaffen einen Ehrendoktor verdient. Was er macht ist Citizen Science im besten Sinn.

Es ist eine Pionierleistung, dass dieses wichtige Buch nun online ist. Ermöglicht hat es die Kantonsbibliothek Graubünden, sie beweist damit, dass Open Access nicht nur für Publikationen im engeren akademischen Sinn wichtig ist, sondern auch für viele andere – es ist verdienstvoll, dass dieses Werk im Repositorium der Kantonsbibliothek ist. Diese Bibliothek hat genau genommen zwei elektronische Speicher – man spricht von Repositorien: Einen öffentlichen und einen internen, er dient vor allem der Langzeitarchivierung von digitalen Daten.

Mattli Hunger und Heimatverein Safien: Orts- und Flurnamen von Safien und Tenna. Safien 2013.
Als Open Access Publication online in der Kantonsbibliothek Chur.
(Hinweis: Die Open Access Ausgabe ist z.Z. nur über den Katalog der Kantonsbibliothek Graubünden zugänglich)

Anmerkung 1) Wie ist das mit „zhinderscht“ und „zinderst“. Mattli Hunger schreibt mir dazu:

Unterschied von Zhinderscht und zinderscht: Zhinderscht kommt von zuhinterst, im betreffenden Fall zuhinterst im Tal. Zinderscht bezeichnet im betreffenden Fall das Haus einer Gebäudegruppe, das am weitesten (einwärts) taleinwärts liegt. Siehe auch Inder Zalön und Usser Zalön oder auf Tenna Inder- und Usserbärg. Wir verwenden bei solchen Ortsbezeichnungen nicht rechts/links oder südlich/ nördlich, sondern „ichi und uus, uuf und òòb“ und dann wie oben aufgeführt eben „zinderscht, zusserscht, zoberscht und zunderscht“. Hier im Anhang noch ein kleines Müsterchen aus meinem Büchlein mit Dialektgeschichten.

Anmerkung 2) Wie ist das mit der Bezeichnung „Thalkirch“. Auch hier der Kommentar von Mattli Hunger

Der hinterste Talabschnitt in Safien vom Gebiet bei der Taller Kirche taleinwärts wird von den Einheimischen seit jeher und auch heute noch „ds Tall“ genannt und die dort wohnhaften Personen sind einfach „d Taller“. (siehe auch Taller Märt, Taller Chilbi, usw.) Bei der Einführung der Poststelle gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde diese mit einer künstlichen, neuen Namensgebung Thalkirch genannt, sodass diese Bezeichnung dann in den schriftlichen Verkehr Einzug gehalten hat. Eventuell wollte man Verwechslungen mit Thal SG vermeiden. Bei der Aufhebung der Poststelle im Tall wurde im Gegensatz zu den aufgehobenen Poststellen Mura und Neukirch, die Postleitzahl 7109 Thalkirch beibehalten, sodass der Name Thalkirch jetzt sogar für Camana und Hof als Postzustellort aufgeführt ist und auch die Gemeinde für Camana und Hof die Bezeichnung Thalkirch verwendet, was mir sehr fremd vorkommt.

Mattli Hunger mit dem Flurnamenbuch von 2013 – Foto Dominik Landwehr (10.1.2023)
Die Neauflage von 2022 des Flurnamenbuchs als Paperback.
Blick von der Talstrasse aus auf die Siedlung Bäch und die Felsen unterhalb der Schafalp Brusch. Foto Dominik Landwehr