Flüchtlinge oder Gedanken zum Schweizer Nationalfeiertag

Gedanken zur gegenwärtigen Diskussion – passend zum Schweizer Nationalfeiertag dem 1.August. Der Beitrag erschien am 27.Juli 2018 in der Regionalzeitung „Tössthaler“ in der Rubrik „Standpunkt“

Seit Monaten tobt in Europa eine erbitterte Diskussion über die Aufnahme von Flüchtlingen. Die Debatte wird in einem scharfen Ton geführt und öfter mal traut man seinen Ohren kaum über die Begriffe, die plötzlich wieder salonfähig werden. „Asyltourismus“ ist eines davon. Die Schweiz als Land mitten in Europa kann sich dieser Diskussion nicht entziehen, auch wenn die Wogen bei uns nicht ganz so hochgehen.

Flüchtlinge sind Menschen in einer Extremsituation. Sie kommen unter Lebensgefahr und aus den verschiedensten Gründen nach Europa. Das tönt abstrakt und ist es auch. Es hilft, wenn man sich ein konkretes Schicksal vorstellt.

Vor bald vier Jahren bin ich Fidan begegnet. Sie war damals knapp zwanzig Jahre alt. Wir trafen uns am Kleidercontainer am Bahnhof von Kollbrunn und sie bat mich in gebrochenem Englisch um alte Kleider für ihre Familie. Ich wunderte mich, liess mich aber in ein Gespräch ein. Bald gesellte sich ihr Vater, ein älterer und schon etwas gebrechlich und müde wirkender Mann zu uns und nur wenig später waren wir in der Asylunterkunft in Kollbrunn beim Tee. Die Wohnung war ärmlich eingerichtet und erinnerte mich an Besuche aus meiner Zeit als IKRK Delegierter im afghanischen Grenzgebiet von Pakistan. Auf dem Boden des Balkons lagen Nüsse zum Trocknen, welche die Familie entlang der Töss gesammelt hatte.
Fidan und ihre Familie kamen aus dem Kurdengebiet von Syrien. Sie flüchteten über die Türkei in die Schweiz. Seither bin ich Fidan immer wieder begegnet und konnte ein wenig an ihrem Weg teilhaben. Erfreulich: Wir unterhielten uns zunehmend auf Deutsch – zwei Jahre lang besuchte Fidan einen Intensivkurs. Danach machte sie sich auf Arbeitssuche. Man hatte ihr eine Reihe von Möglichkeiten angeboten. Ich riet ihr das Angebot für eine Schnupperlehre in einem Pflegheim in der Region anzunehmen. Ich wusste, dass es im Pflegebereich Ausbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten für Leute gibt, die keinen anerkannten Schulabschluss haben. Und eine solche Ausbildungsmöglichkeit hat man Fidan angeboten sofort nach der Schnupperlehre angeboten: Für ihre Art mit den alten Menschen umzugehen, erhielt sie viel Lob und Anerkennung.

Vor ein paar Wochen hat mir Fidan geschrieben: Sie hätte diese Ausbildung im Pflegebereich nun abgeschlossen und nun würde bald eine richtige Stelle annehmen. Ja, und Autofahren habe sie auch gelernt. Eine Erfolgsgeschichte und natürlich enden nicht alle Geschichten so gut.

Ihre Geschichte hilft mir bei der Diskussion um Flüchtlinge. Es geht um Menschen und Schicksale. Ich weiss wohl, dass die westliche Welt in einem Dilemma steckt. Vereinfacht gesagt: Je mehr Flüchtlinge wir aufnehmen, desto mehr kommen nach und die dunklen Geschäfte der skrupellosen Schlepper und ihrer Banden blühen. Und natürlich ist auch mir nicht entgangen, dass ein Teil der Flüchtlinge junge Männer vornehmlich aus Afrika sind, die einen Weg aus der Armut suchen. Man spricht ja deshalb auch von Armutsflüchtlingen.

Was tun? – Wie bei jedem richtigen Dilemma gibt es keine einfache Lösung und kein Entweder-oder. In solchen Situationen hilft es, nach den Kriterien und Grundlagen unserer Entscheidung zu fragen. Für mich spielen zwei Überlegungen eine zentrale Rolle: Erstens die humanitäre Frage: Menschen in Not verdienen Hilfe. Das ist ein universales Prinzip, das alle Weltreligionen kennen. Es ist übrigens auch dieser Gedanke, der Henri Dunant bei der Gründung des Roten Kreuzes bewegt hat und es ist eine Haltung, welche die Schweiz in der neueren Geschichte geprägt hat. Die Weigerung Italiens Rettungsschiffe mit Flüchtlinge aufzunehmen verletzt zum Beispiel dieses Prinzip.

Der zweite Gedanke ist ein politscher: Die Kriege im Nahen Osten, die Migration und Flucht aus Afrika sind zwei zentrale Herausforderungen für Europa. Dafür gibt es nur gemeinsame Lösungen. Es empört mich zu sehen, dass sich einzelne und vor allem osteuropäische Länder hier querstellen. Es sind ausgerechnet jene Länder wie Polen und Ungarn, denen der Beitritt zu EU und Nato nicht schnell genug gehen konnten und die heute Milliarden an Unterstützungsbeiträgen von der EU kassieren. Wir dürfen bei dieser Gelegenheit auch an den Ungarnaufstand von 1956 erinnern – damals hat die Schweiz Tausende von ungarischen Flüchtlingen aufgenommen. Alles vergessen? Wer sagt denn, dass ihr Schicksal morgen nicht unser Schicksal sein könnte?

In dieses Kapitel gehört auch die Frage der Ausrichtung der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit. Toni Stadler, eine ehemaliger Kadermitarbeiter der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit Deza hat vor kurzem ein kritisches Fazit gezogen: Konzepte und Ideen der Entwicklungshilfe kommen aus den 60er Jahren und sollten überdacht werden. Die Schweiz habe, so führt er aus, 40 Jahre lang Hängebrücken in Nepal gebaut. Gäbe es heute nicht Leute im Land, die das nun selber können?

Heute gibt es weltweit über 60 Millionen Flüchtlinge, die Mehrheit davon ist nicht in Europa sondern lebt unter prekären Verhältnissen irgendwo in Asien oder Afrika. Wäre es nicht klüger, an diesen Schwerpunkten die humanitäre Hilfe auszubauen. Das würde letztlich auch den Druck auf Europa verringern.

Mir scheint kein schlechter Moment zu sein, vor unserem Nationalfeiertag über solche Dinge nachzudenken und darüber zu sprechen. Die Schweiz darf stolz sein auf ihre humanitäre Tradition und das soll auch so bleiben. Und ich denke, die Schweiz soll sich in die europäischen Diskussionen einbringen. Das gilt namentlich für unsere Nachbarländer Deutschland, Österreich und Italien. „Tutti fratelli“ soll der Rotkreuzgründer Henri Dunant gesagt haben, als er 1859 das Leid auf dem Schlachtfeld von Solferino in Italien gesehen hat. Wir sind alle Brüder – und Schwestern, dürfen wir heute ergänzen

Erschienen im Tössthaler am 27.7.2018

Foto: Wikimedia Commons
Refugees crossing the Mediterranean sea on a boat, heading from Turkish coast to the northeastern Greek island of Lesbos, 29 January 2016. Mstyslav Chernov. Link zu Bild und Metadaten