Feldpost 1914/18 (1): Nachrichten vom Kanonier Joseph Landwehr

Durch einen Zufall bin ich anfangs 2014 in den Besitz eines Familienalbums gelangt, von dessen Existenz ich bisher nichts gewusst hatte. Es enthält etwa 80 Bilder aus meiner Familie und deckt den Zeitraum 1905 bis 1946 ab. Ungefähr 20 Fotos zeigen Soldaten, die meisten entstanden in den Kriegsjahren 1914 bis 1918, einige auch davor. Es sind Karten, die sich mein Grossvater Joseph und meine Grossmutter Emma gegenseitig geschickt haben.Gesammelt hat sie die Grossmutter Emma in einem speziellen Album. Es erlaubte, die Bilder immer wieder herauszunehmen und die Texte auf der Rückseite zu lesen. Joseph und Emma haben praktiziert, was Millionen anderer Zeitgenossen taten: Sie haben das neue Medium der Fotopostkarte benutzt.
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Diese Bilder interessieren in dreifacher Hinsicht: Zunächst mal sind sie für die Geschichte der Familie von Interesse. Gleichzeitig sind sie aber auch in einem weiteren Sinne historische Dokumente. Und darüber hinaus sind sie Zeugnisse für die Geschichte der Medien. Beim Ausbruch des ersten Weltkriegs war das Radio noch nicht erfunden. Es entstand in jenen Jahren durch den «Missbrauch von Heeresgerät». Hingegen war die Fotografie zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein enorm populäres Medium.
Einige der Bilder aus jener Zeit möchte ich in den nächsten Wochen und Monaten zugänglich machen und kommentieren. Die Geschichte meiner Grosseltern ist eine von Millionen Geschichten aus jener Zeit, aus jenem Krieg, dessen Ausbruch wir 2014 gedenken. Wir kennen sie nur in den allergröbsten Umrissen. Forschung auch im Privaten ist das Zusammenfügen von kleinen Einzelteilen, die nach und nach in unseren Besitz und in unser Bewusstsein gelangen. Manchmal braucht es nur kleine Gesten und so reicht es gelegentlich, ein Bild aus dem Album herauszunehmen und die Rückseite zu lesen. Die alte Tinte ist manchmal ausgebleicht, die Schrift von damals nur schwer zu entziffern. Ein billiger Scanner hilft bei der Detektivarbeit: Einmal digitalisiert lassen sich die Kontraste verstärken, lässt sich das ganze Bild beliebig vergrössern und plötzlich versteht auch das wenig geübte Auge die oft nur flüchtig hingeworfenen Texte, die nun hundert Jahre alt sind.
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Auf dem ersten Foto aus dem Jahr 1906 blicken vier grimmige Soldatengesichter starr und entschlossen in die Kamera, jeder von ihnen hält einen Humpen Bier in der Hand. Vorne ist zusätzlich ein Blumenstrauss und ein Säbel zu sehen. Die Männer sitzen mit grosser Wahrscheinlichgkeit in in einem Fotostudio. Als Hintergrund hat der Fotograf einen bewölkten Himmel gewählt. Alle tragen denselben Schnurrbart, die vier sehen sich fast zum Verwechseln ähnlich. Welcher der vier Soldaten ist Joseph Landwehr? – Wir vermuten, es ist der zweite von links. Wir, das sind in diesem Falle die Enkeltöchter von Joseph Landwehr sowie der Schreibende.
Der Text auf der Rückseite ist leicht zu entziffern. Die Karte ist an «Fräulein Ema Oberholzer, Seidenwebwerei Rüti, Gifon Zürich» gerichtet. Was mit dem Begriff „Gifon“ gemeint ist, weiss ich nicht. Vielleicht habe ich das auch falsch entziffert.
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Statt eines persönlichen Grusses hat der Absender Joseph Landwehr einen Vers gewählt: «Lebe glücklich, lebe froh, wie die Maus im Haberstroh!» Vielleicht fehlten ihm die persönlichen Worte, vielleicht schämte er sich für seine Gefühle. Wir wissen es nicht. Wir notieren, dass der Vers von damals auch noch rege benutzt wird, wie ein kurzer Blick ins Internet zeigt. Der sorgfältig, fast schon kaligraphisch aufgeschriebene Vers lässt auf eine gewisse Übermut schliessen. Er steht in schroffem Kontrast zu den grimmigen Gesichtern auf der Vorderseite. Und die Gesichter wiederum passen nicht zum angedeuteten Trinkgelage. Eine missglückte Inszenierung. Aber der Gruss an das verehrte Fräulein in der Schweiz wird seine Wirkung nicht verfehlt haben.
Die Postkarte ist in mehreren Sprachen beschriftet. Wir finden den Begriff in der linken oberen Ecke auf Französisch, Deutsch, Englisch, Italienisch, Ungarisch und Russisch. Noch waren die Nationen keine Feinde.
Die Postkarte ist mit zwei Briefmarken à 5 Pfennig frankiert. Der Poststempeldatiert vom 23.10.06 und weist als Ort Albert-Hauenstein aus. Es handelt sich dabei um eine längst verschwundene Haltestelle der Wehratalbahn, die den beiden Gemeinden Albert und Hauenstein diente. Die Orte liegen im Südschwarzwald, wenige Kilometer vom Rhein, der die Grenze zur Schweiz bildet, entfernt.
Wer war dieser Joseph Landwehr? – Wir wissen nicht viel: Er wurde 1876 geboren, wahrscheinlich in Tiengen im Südschwarzwald am Rhein, gleich an der Schweizer Grenze. Joseph lernte den Beruf des Drechslers und fand wie damals Lohn und Arbeit in der Schweiz. Tatsächlich verzeichnet die Schweiz zu Beginn des 20.Jahrhunderts einen eigentlichen Einwanderungsschub. Das statistische Amt des Kantons Zürich hat seit 1860 zuverlässige Zahlen.
«Die erste grosse Migrationswelle fand im Zuge der Nationalstaatengründungen rund um die Schweiz statt und dauerte von 1860 bis zum ersten Weltkrieg. In diesem Zeitraum verzehnfachte sich die ausländische Bevölkerung; 1910 erreichte sie einen Anteil an der Gesamtbevölkerung von 20,3 Prozent (Grafik 1). Ein Wert, der erstmals zu Beginn der 1990er Jahre wieder überschritten wurde. Rund vier Fünftel der damaligen Immigranten stammten aus Deutschland, die übrigen 20 Prozent vor allem aus Österreich, Italien und Frankreich. Der erste Weltkrieg brachte das scheinbar ungebrochene Wachstum jedoch ins Stocken: Mobilmachungen, die ungewisse politische Lage sowie die Wirtschaftskrise im Sommer 1914 führten dazu, dass viele ausländische Personen in ihre Heimatstaaten emigrierten.»
Quelle: Statistisches Amt des Kantons Zürich: Die ausländische Wohnbevölkerung im Kanton Zürich.Statistik Info 05/2003. Hier gehts zum Originaldokument.

Wie ist Joseph Landwehr nach Albert-Hauenstein gekommen. Wir wissen es nicht. Gut möglich, dass er hier seine Rekrutenschule absolviert hat.
Wie ist es weitergegangen – mit dem Fräulein Oberholzer, aber auch mit dem Militär? – Nun, etwas darf ich vorwegnehmen: Joseph Landwehr hat den Krieg überlebt. Sonst würde ich das heute nicht schreiben.
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Copyright Text und Bild: Dominik Landwehr
Winterthur 2014
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