Das Internet wächst unaufhörlich. Täglich, ja wohl stündlich kommen Millionen neue Seiten dazu: Zeitungsmeldungen, Firmennachrichten, Facebookeinträge, Diskussionsbeiträge und natürlich auch Angebote des Einzelhandels mit Food, Elektronik, Bücher, Kleider, Autos… Alle diese Einträge haben etwas mit der Gegenwart zu tun. Und doch ist damit erst eine Dimension des Internets beschrieben. Es gibt nämlich noch eine weitere: Das Internet wächst auch rückwärts und es wächst in die Tiefe und ein Teil davon bleibt dem oberflächlichen Betrachter sogar verborgen.
Ich kann das mit einer kleinen Geschichte erklären. Seit Jahren suche ich im Internet nach den Spuren meines Grossvaters Gottfried Widmer. Er lebte von 1890 bis 1963. Fast vierzig Jahre nämlich 1918 bis 1956 war er Pfarrer im ländlichen Bätterkinden im Kanton Bern. Sein Leben war von einer grossen Leidenschaft bestimmt: Dem Interesse für den Orient und für die orientalischen Sprachen. Neben seiner Tätigkeit als Pfarrer war mein Grossvater nämlich in den Jahren 1928 bis 1960 ausserordentlicher Professor für Hebräisch, Syrisch, Aramäisch und klassisches Arabisch. Das tönt heute sehr exotisch und ich verstehe von all diesen Sprachen kein Wort. Es war in seiner Zeit aber nicht so ungewöhnlich, dass sich protestantische Pfarrer für die Erforschung des Orients interessierten.
Es gibt keinen Nachlass von meinem Grossvater. Vor rund zehn Jahren habe ich angefangen, hin und wieder im Internet nach ihm zu suchen. Eine einfache Suche brachte lange nichts. Bis plötzlich bei einer Internetsuche in der Zentralbibliothek Bern sein Name auftauchte. Ich fand einen Hinweis auf seine Doktorarbeit, die er im Jahre 1916 im Leipzig vorlegte. Auch seine Habilitationsschrift aus dem Jahre 1925 war dort verzeichnet. Sie beschäftigten sich beide mit Fragen zum Alten Testament. Nur wenig später entdeckte ich bei derselben Bibliothek eine kurze Biografie. Nun war meine Sammelleidenschaft geweckt und ich wechselte zu einer anderen Bibliotheksseite, dem so genannten KVK. Die Abkürzung steht für „Karlsruhe Virtueller Katalog“. Eine schmucklose Seite aber vielleicht eines der mächtigsten Suchwerkzeuge für wissenschaftliche Literatur. Sie erlaubt eine gleichzeitige Suche in Dutzenden von wissenschaftlichen Bibliotheken und Antiquariaten. Und hier stiess ich dann auf grosse Übersetzungen aus dem Arabischen, die mein Grossvater zwischen 1930 und 1960 gemacht hatte. Er beschäftigte sich offenbar mit Autoren mit geheimnisvollen orientalischen Namen. Keinen hatte ich zuvor je gehört oder gelesen: Mahmūd Taimūr, Gamīl Şidqī az-Zahāwī, Ibràhîm al-Muwailihî oder Emīr Shakīb Arslā. Alle seine Übersetzungen erschienen in einer wissenschaftlichen Zeitschrift, welche „Die Welt des Islams“ hiess. Und diese Zeitschrift wiederum gibt es auch online… womit für mich klar war: Diese Texte muss ich auch haben!
So ganz ohne Hindernisse ging diese Suche allerdings nicht. „Die Welt des Islams“ ist einer der angesehensten wissenschaftlichen Zeitschriften auf diesem Gebiet und existiert auch heute noch. Die älteren Artikel sind online aber kostenpflichtig: 34 Dollar pro Artikel. Wer sich den Artikel aber in einer wissenschaftlichen Bibliothek – etwa der Zentralbibliothek der Uni Zürich oder Bern besorgt, muss nichts bezahlen. Also spaziere ich hin und wieder über Mittag oder nach Feierabend in eine der grossen wissenschaftlichen Bibliotheken. In Zürich die Zentralbibliothek, die ETH Bibliothek oder die Bibliothek der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK. Mittlerweile habe ich doch ein ansehnliches Verzeichnis von Werken meines Grossvaters gefunden und ihm unter www.gottfried-widmer.ch sogar eine eigene Internetseite eingerichtet. Und fast alles von meinem Schreibtisch zuhause aus. Gekostet hat es fast nichts. Nur Zeit…
Das Geheimnis hinter diesen überraschenden Suchresultaten hat einen Namen: Retrodigitalisierung. Damit ist die Digitalisierung von analogen Quellen gemeint. Sie wird im Gebiet der Wissenschaft überall auf der Welt und auch in der Schweiz betrieben. Nachträglich digitalisiert werden zum einen Kataloge mit Daten von Büchern – und andererseits ganze Bücher selber. Die amerikanische Nonprofit Organisation Jstor etwa hat sich auf die nachträgliche Digitalisierung von wissenschaftlichen Zeitschriften spezialisierte und führt heute 1400 Titel im Angeboten mit Millionen von Artikeln. Die Bayerische Staatsbibliothek München ist im deutschen Sprachraum führend. Sie arbeitet mit dem amerikanischen Internetriesen Google zusammen. Google hat ein eigens ähnliches Projekt namens Google Books. Es ist sehr umstritten – als Reaktion darauf entstand das Projekt „The European Library“. Auch in der Schweiz gibt es solche Projekte. Eines davon heisst e-Rara, hier geht es um die Digitalisierung von seltenen Büchern, etwa aus dem Gebiet der Medizin oder der Astronomie. Ein anderes Projekt beschäftigt sich mit Zeitschriften aus der Schweiz. Hier finden sich etwa ältere Jahrgänge der 1941 gegründeten Schweizer Kulturzeitschrift „DU“. Um noch ältere Quellen, nämlich um mittelalterliche Handschriften geht es im Projekt e-codices. Wer sich damit beschäftigen will, braucht etwas Geduld. Der Zugang ist zwar für jedermann frei und umsonst – wo aber die wirklich schönen Sachen zu finden sind, sagt keiner. So bleibt nur: Stöbern und suchen. Besonders dankbar sind natürlich Quellen mit Illustrationen. Mein persönlicher Favorit: Die Sammlung von Flugschriften aus dem 16.Jahrhundert des Zürcher Johann Jakob Wick (1522-1588) , welche die Zentralbibliothek unter dem Namen Wickiana aufbewahrt. Hier finden sich illustrierte Nachrichten vom Weltgeschehen – von Unglücksfällen und Verbrechen, von Hexenverbrennungen, Feuersbrünsten und von Himmelserscheinungen, von Kometen und Nordlichtern.
Durch die Digitalisierung hat die Forschung mit alten Quellen riesige Fortschritte gemacht. Interessanterweise sind gerade die älteren Forscher in den traditionellen Altertumswissenschafter besonders angetan von den neuen Mitteln: Dank hochauflösenden Digitalisaten können sie heute überall auf der Welt mit kostbaren Handschriften und alten Texten arbeiten.
Allerdings ist nur ein Teil dieser alten Texte für alle zugänglich. Wissenschaftliche Arbeiten sind oft kostenpflichtig und wie im Fall der Internetseite Jstor hinter einer so genannten Paywall. Das ist die Dimension der Tiefe des Internet, die eingangs erwähnt wurde. Und genau deshalb lohnt sich ein Gang in eine wissenschaftliche Bibliothek nach wie vor für alle. Man muss hier absolut keine Berührungsängste haben: Diese Bibliotheken haben einen öffentlichen Auftrag. Sie werden alle mit unseren Steuern finanziert. Besucher sind überall willkommen und erhalten kompetente Unterstützung von professionellen Bibliothekarinnen und Bibliothekaren.
Digitalisierte Handschriften aus der Schweiz
www.e-codices.ch
Seltene Schweizer Bücher seit der frühen Neuzeit
www.e-rara.ch
Schweizer Zeitschriften
www.retro-seals.ch
Digitalisierte wissenschaftliche Zeitschriften
www.jstor.org.
Gottfried Widmer
www.gottfried-widmer.ch
Bilder: DIe Heuschrecke oben stammt aus der Sammlung „Wickiana“ und zeigt die Darstellung einer Heuschreckenplage im 16.Jahrhundert (Wickiana, Zentralbibliothek Zürich)
Unten: Die Geburt von Christus und der Traum des Mundschenks des Pharaos. Illustrierte Handschrift aus dem Kloster Sarnen von 1427.