Der Stern von Bethlehem: Eigentlich wollte ich von ihm schreiben, von diesem Stern und vom Lied von Paul Burkhard, das einem nicht aus den Ohren gehen will, wenn man es einmal gehört hat. Und von meinem Besuch im Kinderspital von Bethlehem. Aber es fällt mir schwer, mich darauf zu konzentrieren. Und statt der Sterne sehe ich die Raketen und ihre Schweife die zwischen Israel und Gaza fliegen, ich sehe die Bilder von verstümmelten Kindern, toten und verletzten Menschen und zerstörten Häusern. Und ich fühle die zerstörerische Wut von jahrzehntelanger Unterdrückung und Demütigung auf Seiten der Menschen in Gaza, aber auch die hilflose Angst der Menschen in Israel.
Mein Stern von Bethlehem, von dem ich schreiben will, hat einen Namen und ein Gesicht: Ich meine damit die Chefärztin des Caritas Kinderspitals von Bethlehem, Dr. Hiyam Marzouqa. Ich habe im Oktober die Möglichkeit gehabt, das Spital zu besuchen und mit dieser Frau zu reden. Auf Deutsch übrigens, denn die Ärztin hat dank eines Stipendiums in Deutschland Medizin studieren können. Ihr Spital steht nur wenige hundert Meter von der hässlichen Sperrmauer, welche das Westjordanland von Israel trennt und Tausende von Palästinensischen Bauernfamilien den Zugang zu ihrem Land und ihren Olivenbäumen verunmöglicht.
30 000 Kinder werden hier jedes Jahr behandelt, Christen und Muslims zu gleichen Teilen, erklärt uns die Chefärztin im Gespräch: „Unsere Kinder leiden an den typischen Armuts-Erkrankungen. Im Sommer Durchfall und im Winter Erkältungen und Erkrankungen der Atemwege“. Verantwortlich dafür sind unter anderem schlechte Heizungen. Das Spital hat auch Sozialarbeiter angestellt. „Es braucht viel Aufklärung bei den Leuten“, sagt uns die Ärztin. Beharrliche Aufklärung braucht es vor allem, um die verbreiteten Erbkrankheiten zu bekämpfen. Heiraten innerhalb von Familien – etwa von Cousin und Cousinen – sind verbreitet. Schuld daran ist zum Teil die Rückständigkeit, zum Teil aber auch die äusserst eingeschränkte Bewegungs- und Reisefreiheit der Palästinenser in dem von Israel besetzten Westjordanland.
Natürlich haben wir in Bethlehem die Geburtskirche von Jesus besucht. Ein unruhiger Ort mit zahllosen Pilgern aus der ganzen Welt, ganz ähnlich wie in der Altstadt von Jerusalem. Stille um inne zu halten, gibt es hier kaum. Ich habe sie anderswo gefunden: in der Kapelle des Kinderspitals, wo hinten eine Skulptur von Niklaus von der Flüe, dem Schweizer Schutzpatron steht. In seiner Nähe setzen wir uns für einen kurzen Moment und geniessen die Stille und das heitere, helle Licht in diesem Andachtstraum. Unsere Gedanken kreisen um Liebe und Hass, um Barmherzigkeit und Solidarität, um Krieg und Frieden. Möge die Kraft des Schweizer Heiligen bis hierher reichen, so hoffen wir. Das mag sich auch der Gründer des Spitals, der Walliser Ordensmann Ernst Schnydrig (1912 – 1978) gesagt haben. Die Arbeit des Spitals hat mich beeindruckt und ein klein wenig bin ich auch stolz, dass dieses Projekt dank Schweizer Mittel existiert.
„Kei Mueter weiss, was ihrem Chind wird gscheh, kei Mueter chan i d Zuekunft gseh“ Auch dieses Lied geht keinem zum Ohr hinaus, wenn man es einmal gehört hat und letzthin hat mir ein guter Freund gestanden, dass ihm jedesmal die Tränen kommen, wenn er es hört. Und auch zu diesem Lied aus der Zeller Wienacht ist mir nach meinem Besuch in Israel und Palästina etwas in den Sinn gekommen. Es ist eine Geschichte, welche die palästinensische Friedensaktivistin Sumaya Farhat-Naser erzählt. Die mutige Frau hat eine Reihe von Büchern veröffentlicht, zuletzt „Disteln im Weinberg“ und sie hat viele Preise und Anerkennungen, auch aus der Schweiz, erhalten. Hier nun ihre Geschichte:
„Einmal waren wir zu Hunderten am Check Point Surda, und die Soldaten ließen niemanden durchgehen. Unruhe und Wut stieg an. Die Soldaten drängten die Menge zurück und als ein Soldat einen jungen Mann mit dem Gewehr an die Brust zurück schubste, knüpfte der Mann sein Hemd auf und sagte dem Soldat: „Erschieß mich, wenn Du willst!“ – eine Herausforderung, die alle wie einen Glutstrahl packte. Da ging ich schnell hin, stellte mich zwischen die beiden Männer, sodass das Gewehr nun auf meine Brust zielte. Ich öffnete meine Arme breit, dem Soldat entgegen und sagte: „Hab keine Angst, ich will dich schützen, Du hast ein Gewehr, aber ich schütze dich!“ „Wieso Du? Wer bist Du?“ fragte er. Ich sagte: „Weil ich deine Mutter kenne, sie sorgt sich um dich.“ „Wieso kennst du meine Mutter?“ Ich sagte: „Weil ich eine Mutter bin.“ Daraufhin senkte sich das Gewehr von meinem Brust zum Boden hin. Der Soldat pfiff seinen Kameraden, sie stiegen schnell in den Jeep und verließen sofort den Ort.
Die mutige Frau aus Palästina ist in diesen Tagen in der Schweiz. Sie spricht am Sonntag 25.November in Zürich und am Dienstag 27.November in Bülach. Einzelheiten dazu gibt’s bei www.lenos.ch. Und das Caritas-Kinderspital in Bethlehem ist auf Spenden aus der Schweiz angewiesen: www.kinderhilfe-bethlehem.ch. Meinen ausführlichen Reisebericht kann man auf meinem Blog nachlesen: www.sternenjaeger.ch
Dieser Text erschien am Samstag 24.November 2012 im Tössthaler in der Rubrik „Standpunkt“