Der alpine Wahnsinn

„15 Pässe in 3 Tagen“ – mit dieser Information meldete sich diesen Sommer ein Bekannter ab. Und versorgte uns schon wenig später mit fotografischen Erinnerungen seiner Höchstleistungen.
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Was er damit meinte, habe ich diesen Sommer auf dem Julier oder Albulapass erfahren dürfen: Bei gutem Wetter blochen Dutzende von schwarzgewandeten Helden mit ihren hochgerüsteten Boliden über die Alpenpässe. Es mag martialisch aussehen: Die Fahrer halten sich an die Verkehrsregeln und das ruhige Brummen ihrer übermotorisierten Gespanne lässt erahnen, dass sie auf (deutschen) Autobahnen auch ganz anders Gas geben können. Die Helden der Pässe sind nach meiner Erfahrung meistens Männer in vorgerücktem Alter und vielleicht kann man ihre Fahrfreude als letztes Aufbäumen vor dem unausweichlichen Wechsel aufs Kreuzfahrtschiff interpretieren.
Für mich ist solches Passfahren ein Ausdruck des alpinen Wahnsinns, der mir in den letzten Jahren in verschiedenen Ausprägungen immer mehr auffällt. Die Schweizer Alpen scheinen sich zur wahren Arena unserer Spass- und Freizeitgesellschaft zu entwickeln. Davor sind auch Pässe ohne asphaltierte Strassen nicht sicher. An gewissen Tagen tummeln sich nämlich hier oben bei Alpenrosen, Edelweiss und Enzian deutlich mehr Velofahrer als Wanderer. Mit dem Velo – Verzeihung, das war jetzt etwas ungenau: Ich meine natürlich die Mountainbikes, die sich in Sachen Technik und Ausrüstung gegenüber ihren motorisierten Brüder und Schwestern auch nicht lumpen lassen: Karbonrahmen, Scheibenbremsen, GPS gehören zum Standard.
Und tatsächlich: Es gibt auch in den Alpen noch Fuss-Gänger. Wandern kann man ihre Tätigkeit allerdings kaum mehr nennen. Diese Sportbegeisterten gehen gerne ans Limit und absolviert den Swiss Alpine Marathon mit 10, 30, 42 oder 78 Kilometer, gerne auch bei brütender Sommerhitze und Temperaturen über 30 Grad. Sie sind ganz klar weder Warmduscher noch Weicheier. Wer noch immer nicht genug hat wagt sich an den Swiss Iron Trail der über 201 Kilometer und 10 000 Höhenmeter führt. Der Wettkampf erstreckt sich über drei Tage und Schlafpausen darf jeder einlegen, wenn er müde ist. Alpiner Wahnsinn in Reinkultur!
Vielleicht habe ich mich ein wenig zu stark auf den Kanton Graubünden konzentriert. Keine Angst, auch das Wallis und das Berner Oberland haben ihren Teil zum alpinen Wahnsinn beizusteuern. Beim Wallis ist es klar – ich sag nur: Matterhorn. Der Toblerone-Berg, gilt als nicht besonders schwierig dafür aber besonders gefährlich, gehört zu den beliebtesten Trophäen von ambitionierten Touristen und falls es beim Kraxeln mal nicht rund läuft, ist der Helikopter der Air Zermatt in Bereitschaft.
Es gibt auch Spielarten des alpinen Wahnsinns, bei dem ein Helikopter nach einem Unfall nichts mehr ausrichten kann. Zu besichtigen im Lauterbrunnental im Berner Oberland: Die Rede ist vom Base-Jumpen. Todesmutig stürzen sich die Sportler hier über eine mehr als 1000 Meter hohe Wand in der Hoffnung, dass sich der Fallschirm an ihrem Rücken korrekt öffnet. Auch diese Sportart lässt sich steigern – denn neben dem Base Jumpen gibt’s neuerdings auch das Base-Flying: Ein windschlüpfiger Anzug mit eine paar Miniatur-Flügeli zum Stabilisieren. Zum Extremsport gehört eine spezielle Videokamera, welche die todesmutige Sprünge dokumentiert und ich muss gestehen, auch mich faszinieren diese Videos, die sich im Internet zu Dutzenden finden…
Der Alpensommer währt kurz und eigentlich ist er auch nur eine Übergangszeit. Bevor dann mit dem Winter die alpine Hauptsaison ins Land zieht kommt noch das grosse Halalai der Jäger. Sie rücken im Herbst an mit ihren grünen Kleidern und machen dem Wild gründlich den Garaus. Dasselbe Wild übrigens, das sie im Winter mit viel Aufwand durchgefüttert haben. Die Logik dahinter: Wir füttern die Tiere im Winter, um sie im Herbst dann abzuknallen. Eine urchige Spielart des alpinen Wahnsinns und meist den Einheimischen vorenthalten, denn Ausserkantonale werden kräftig zur Kasse gebeten.
Der kurze Alpsommer kennt eine andere wichtige Tätigkeit: Die Skipisten für den Winter müssen immer wieder hergerichtet und planiert werden. Das geht am besten mit dem Bagger. Und auch die Schneekanonen müssen überholt und die Räder der Sesselbahnen geölt und die Schnapsfässer in den Schnee-Bars aus Plastik auf den Bergen gefüllt. Dann beleben sich für einige wenige Wochen, die Zweit- und Drittwohnungen, die im Sommer fast ganz leer stehen und hier zeigt sich dann der alpine Wahnsinn von seiner demokratischen Seite: Denn nun beginnt die Skisaison. Und es gilt was das Trio Eugster in den 70er Jahren beschwört hat: „Alles faart Schi, alles faart Schii, Schii faart die ganzi Nation.“

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