Noch heute sind viele Rätsel des Zweiten Weltkrieges ungelöst. Erst vor kurzem hat der amerikanische Geheimdienst einen Teil der so genannten TICOM Papers frei gegeben. Sie werfen Licht auf ein rätselhaftes Dokument, das der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg zugespielt wurde.
Herbst 1948. Der Zweite Weltkrieg ist seit zweieinhalb Jahren vorbei. Deutschland liegt in Trümmern. In der Schweiz reibt man sich die Augen und stellt fest, dass man der europäischen Katastrophe unbeschadet entronnen ist. In dieser Zeit erreicht Bern ein umfangreiches Dokument. Geschrieben hat es ein Codespezialist, der sich im Krieg auf deutscher Seite mit verschlüsselten Schweizer Funksprüchen befasst hat. Die wichtigste Botschaft des Dokuments: Nazi-Deutschland konnte den verschlüsselten Funkverkehr der Schweiz mühelos abhören.
Die Schweizer Enigma
Dazu muss man folgendes wissen: Die Schweiz benutzte im Zweiten Weltkrieg deutsche Chiffriertechnik. Zum Einsatz kam die berühmte Enigma Chiffriermaschine, die vor dem Krieg auf dem Markt frei erhältlich war. Es handelte sich dabei um die so genannten Enigma K. Das K steht für «kommerziell». Die Maschine war im Prinzip identisch mit den Maschinen, die während des Krieges in Deutschland verwendet und von den Engländern entschlüsselt wurden: Ein elektromechanisches Gerät von ähnlichen Dimensionen und Aussehen wie eine Schreibmaschine. Sie bestand aus einer Tastatur, drei auswechselbaren und einem fest eingebauten Rotor sowie einem Lampenfeld. Deutschland benutzte verschiedene Varianten der Enigma, die meisten hatten aber zusätzlich ein Steckerbrett, was die Verschlüsselung raffinierter machte.
Verfasser des Dokumentes ist ein gewisser Bruno Kröger aus Kaufbeuren. Kröger führt im ersten Teil des Dokuments aus, wie sich die Schweizer Enigma knacken lässt. Der Autor gibt an, dass allein die Entschlüsselung der ersten Walze mit fünf bis sechs Arbeitskräften einige Wochen dauerte. Die übrigen beiden Walzen konnten dann aber allerdings binnen einiger Tage entschlüsselt werden. Sein Verdikt zur Enigma K fällt denn auch deutlich aus: «Jedenfalls besteht für die Enigma-Chiffriermaschine Type K keine Möglichkeit, sie in ihrem augenblicklichen Zustand so zu verwenden, dass sie den Sicherheitsansprüchen genügen kann.»
Im zweiten Teil holt Bruno Kröger wesentlich weiter aus und unternimmt den Versuch allgemeine Regeln für die Sicherheit eines Chiffrierverfahrens aufzustellen. Er geizt nicht mit Einschätzungen zur Sicherheit von Verfahren, wie sie in anderen Ländern verwendet wurden und gibt sich damit als Vertreter eines Nachrichtendienstes zu erkennen. Erst auf den letzten Seiten kommt Bruno Kröger auf den wirklichen Hintergrund seines Briefes zu sprechen. Er sucht ganz einfach Arbeit und bietet der Schweiz seine Dienste an. Sein Arbeitsfeld skizziert er grosszügig weit und möchte es auch auf „Grossindustrie, Grosshandel und Grossbanken ausdehnen, da die von solchen Instituten benutzten Geheimschriften allgemein leicht zu entziffern sind.“ Allfällige Bedenken gegenüber einer solchen Beschäftigung will er wie folgt begegnen: „Sollte ein von mir empfohlenes Geheimschriftverfahren sich trotz Beachtung der Anwendungsvorschriften im Gegensatz zu meiner Beurteilung als von unberufener Seite entzifferbar erweisen, so bin ich bereit, mir einen solchen Irrtum als ‚bewussten Verrat‘ auslegen zu lassen.“
Viele offene Fragen
Das Dokument ist weder im Bundesarchiv noch im Militärgeschichtlichen Archiv der Schweiz am Guisanplatz zu finden. Ein ehemaliger und mittlerweile verstorbener Angehöriger des Schweizer Nachrichtendienstes berichtete dem Schreibenden von diesem Papier, der damalige Leiter der Abteilung Kryptografie der Schweizer Armee händigte es dann ohne Zögern aus. Aus heutiger Sicht stellen sich eine Reihe von Fragen: Stimmt die beschriebene Methode zur Entschlüsselung? – Ist das Dokument echt? – Wie hat die Schweiz damals reagiert? – Wer war Bruno Kröger?
Der Kryptologe Frode Weierud kennt die Dokumente : „Die von Bruno Kröger beschriebene Methode um die Enigma K zu entschlüsseln ist korrekt und ähnlich wie die Methoden, die in Bletchley Park benutzt wurden.“
Gemäss den vorliegenden Auskünften haben die betroffenen Stellen in der Schweiz das Dokument damals als authentisch erachtet. Aber: Die Informationen waren der Schweiz nicht neu! Man kannte die Probleme der Enigma K und zwar sowohl die prinzipiellen Schwächen auch als auch die Fehler, die man in der Bedienung beging. Noch während des Zweiten Weltkrieges startete man deshalb mit der Entwicklung einer eigene Chiffriermaschine, welche diese Mängel nicht mehr hatte. Sie trug den Namen Nema – ein Kürzel für Neue Maschine. Die Nema kam allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg zum Einsatz. Auf das Schreiben aus Deutschland ist man nicht eingetreten. Ob Bruno Kröger eine Antwort erhalten hat, ist unbekannt. Bekannt ist hingegen, dass auch die Alliierten die Schweizer Funksprüche knacken konnten und so beispielsweise bestens im Bild waren über die Verhandlungsposition der Schweizer Regierung bei den so genannten Washingtoner Verhandlungen 1946, wo es um das Raubgold und weitere deutsche Vermögenswerte in der Schweiz ging.
Wer war dieser Bruno Kröger?
Sein Name taucht erstmals in einem erbeuteten Dokument auf, das 1997 veröffentlicht wurde. Es ist ein Protokoll aus dem Forschungsamt der Reichsluftfahrt, eine der zahlreichen nachrichtendienstlichen Einrichtungen im Dritten Reich. Im Juni 2010 gibt die National Security Agency NSA erneut Dokumente aus dem Zweiten Weltkrieg frei. Diesmal ist es ein umfassender über 1000 Seiten dicker Report, der sogar im Internet publiziert wird. Titel: European Axis Signal Intelligence in World War II. Es ist der Schlussbericht der TICOM Kommission, datiert vom 1. Mai 1946. TICOM steht für Target Intelligence Commitee: Eine geheime alliierte Gruppe, deren Ziel die Aufklärung der kryptologischen Aktivitäten von Nazi-Deutschland war. Man wollte verhindern, dass allfälliges Wissen der Sowjetunion in die Hände fallen könnte. Gleichzeitig erhoffte man sich Erkenntnisse, welche den Alliierten auf dem pazifischen Kriegsschauplatz helfen könnten. Die TICOM Kommission arbeitete in sechs Gruppen, viele von ihnen dürften ausgewiesene Chiffrierspezialisten gewesen sein.
Zu den wichtigsten Erkenntnissen des TICOM Berichtes gehörte die Feststellung, dass europäische und vor allem deutsche Kryptoanalytiker nicht in der Lage waren, Kryptografie-Systeme auf höchster Stufe zu lesen. Dazu zählte unter anderem die amerikanische Sprachverschlüsselungs-Maschine mit dem Codenamen SIGSALY, welche die Telefonate zwischen Roosevelt und Churchill verschlüsselte und auch die britische Typex, eine als sicher geltende Rotormaschine. Die TICOM Teams kamen auf der anderen Seite aber auch zur Feststellung, dass viele Codes und Maschinen auf mittlerem Niveau von den Deutschen geknackt und die Botschaften gelesen werden konnten: «From an intelligence standpoint the results obtained by the German cryptanalytic successes were important, but not decisive». Anhand der TICOM Interviews konnten die Alliierten feststellen, dass man in Deutschland nichts von den riesigen Operationen im britischen Bletchley Park ahnte, wo am Ende des Krieges über 10 000 Personen arbeiteten und ein grosser Teil des Funkverkehrs der Achsenmächte entschlüsselt wurde, darunter auch ein Grossteil der Enigma-Nachrichten.
Das so genannte Forschungsamt von Hermann Göring
Band 7 des TICOM Reports befasst sich auf 122 Seiten mit dem Forschungsamt und hier taucht nun auch der Name von Bruno Kröger auf. Das Forschungsamt war direkt Hermann Göring unterstellt und diente der NSDAP. Es operierte unabhängig von den übrigen Diensten, auch wenn es mit ihnen kooperierte. Total arbeiteten 2000 Personen in diesem Amt, das in Berlin-Charlottenburg an der Schillerstrasse 116 – 124 untergebracht war. Die Hauptaufgabe des Forschungsamtes war die Versorgung des Nazi-Staates mit Informationen, die durch das Abhören von Telefon, Telegraf und auch den Funkverkehr gewonnen wurden. Dazu gehörte auch die Auswertung von Presse-Erzeugnissen. Anders als der Name suggeriert, war das Forschungsamt nicht eine operative Division des Luftfahrtministeriums, sondern ein Nachrichtendienst der Partei.
Am 9. Mai 1945 – ein Tag nach der Kapitulation Deutschlands – fand man die verlassenen Baracken des Forschungsamtes in Kaufbeuren. Hierhin war ein Teil der Aktivitäten aus Berlin verlegte worden. Von den 2000 Mitarbeitern des Forschungsamtes befragten die TICOM Spezialisten 20 Personen und einer davon war ganz Bruno Kröger, der auch im Personenverzeichnis im Anhang aufgeführt wird. Demzufolge war er der Spezialist für Chiffriermaschinen und soll den russischen Teleprinter sowie eine Finnische Hagelin Chiffriermaschine geknackt haben. Neben seinen Aufgaben im Team der war er Verbindungsmann zur Chiffrierabteilung des Oberkommandos der Wehrmacht OKW/Chi, die vom Mathematiker Erich Hüttenhain (1905 – 1990) geleitet wurde. Diese Abteilung war für die Sicherheit der eigenen Chiffrierverfahren zuständig . Allerdings soll Bruno Kröger an vielen Sitzungen gefehlt haben, weil sein Arbeitsplatz nach Breslau, dem heutigen Wroclaw in Westpolen verlegt worden war.
Nach den vorliegenden Informationen besteht kein Zweifel mehr darüber, wer Bruno Kröger war: Ein Kryptografie-Experte eines Nachrichtendienstes des Dritten Reiches, der in amerikanische Gefangenschaft geriet und dort über seine Tätigkeit und seine Verbindungen Rechenschaft ablegte. Die Papiere für die USA und für die Schweiz dürften zur gleichen Zeit entstanden sein.
Bruno Kröger war nicht Mathematiker, sondern ursprünglich Übersetzer. Das mag denn auch der Grund dafür sein, dass sein Name nach dem Krieg im Kontext des Chiffrierwesens nicht mehr auftaucht. Der führende Kryptologe des Dritten Reiches, Erich Hüttenhain wurde nach dem Krieg Leiter der ersten Behörde für Kryptologie, der Zentralstelle für das Chiffrierwesen des Bundesnachrichtendienstes BND.
Die Akte zum Thema Bruno Kröger und die Schweiz ist noch nicht geschlossen. Längst nicht alle Unterlagen des TICOM Projektes sind heute zugänglich. Es fehlen vor allem die Gesprächsprotokolle. Die Referenzen dazu sind da und es wäre möglich, die Freigabe dieser Daten und dem Freedom of Information Act FOA nachzufragen. Was Bruno Kröger nach dem Krieg gemacht hat, ist unbekannt.
Die TICOM Papiere sind unter folgender Internet Adresse zugänglich: http://www.nsa.gov/public_info/declass/european_axis_sigint.shtml
Dieser Artikel wurde am 9.August 2012 in der Neuen Zürcher Zeitung Nr.183 auf Seite 56 in leicht gekürzter Form abgedruckt. Die gekürzte Fassung ist unter folgender Adresse zu finden:
http://www.nzz.ch/aktuell/digital/ein-mysterioeses-stellengesuch-1.17454107
Dominik Landwehr: Mythos Enigma. Die Chiffriermaschine als Sammler- und Medienobjekt. Bielefeld: Transcript Verlag 2008. www.mythos-enigma.ch
Ein etwas ausführlicherer Aufsatz erschien 2013 in der Festgabe für Christoph Georg Tholen. Dominik Landwehr: Wer war Bruno Kroeger. Die TICOM-Protokolle lösen ein Schweizer Rätsel aus dem Zweiten Weltkrieg.
(Interventionen : Festschrift für Georg Christoph Tholen Haase, Frank and Heilmann, Till, eds. (2014) Interventionen : Festschrift für Georg Christoph Tholen. Marburger Schriften zur Medienforschung, 45. Marburg 2014)