Eine Zeitreise zum Beginn des 20.Jahrhunderts: Der Bilderschatz aus der Haldengut-Geschichte ist für alle zugänglich
Eine Sammlung von rund 90 Fotografien dokumentiert die Arbeit der Winterthurer Brauerei Haldengut zwischen 1878 und 1913. Die Bilder stammen mehrheitlich vom Winterthurer Fotografen Hermann Linck und befinden sich im Archiv der Familie Schoellhorn. Seit kurzem sind die Fotos auf Wikimedia Commons und können gratis genutzt werden.
Zu verdanken ist dies Andreas Schoellhorn, er war der letzte CEO der selbständigen Brauerei Haldengut AG, die im Jahr 1994 von Heineken übernommen wurde. Der Braubetrieb in Winterthur wurde mit einem letzten Sud 2002 eingestellt. Er hat dafür gesorgt, dass die historischen Dokumente aus der langen Geschichte der Brauerei in verschiedene Archive kamen, erzählt er uns: Zum Stadtarchiv Winterthur und zum Fotomuseum aber auch zur Gesellschaft für Geschichte des Brauwesens in Berlin. Die 1843 gegründete Brauerei war über Generationen im Besitz seiner Familie: Der Ur-Ur-Grossvater von Andreas Schoellhorn, Johann Georg Schoellhorn (1837 – 1890) war bereits 1875 ins Geschäft in Winterthur eingestiegen. Danach übernahm dessen Sohn Fritz Schoellhorn (1863 – 1933) die Verantwortung Brauerei. «Er war eine faszinierende Persönlichkeit», sagt Andreas Schoellhorn: «Er hat nicht nur die Brauerei geführt und die Bierqualität verbessert, sondern auch die Geschichte des Brauwesens erforscht und schon damals begonnen die Literatur darüber systematisch zu dokumentieren. Seine Bibliografie wurde in neuerer Zeit sogar nachgedruckt». 1928 verlieh ihm die ETH Zürich für seine Verdienste zur Verbesserung der Gärprozesse im Brauwesen einen Ehrendoktor. Es war auch Fritz Schoellhorn, der beim Winterthurer Fotografen Hermann Linck (1866-1938) eine fotografische Dokumentation in Auftrag gegeben hat. Die Bilder sind in zwei Alben erhalten und dienten auch als Grundlage für Druckbroschüren, die Schoellhorn anfangs des 20.Jahrhunderts fertigen liess.
Systematische Abbildung des Brauprozesse
Eine grosse Gruppe von Bildern entstand zwischen 1900 und 1913. Sie bildet systematisch den Prozess des Bierbrauens ab, angefangen vom Wasserreservoir auf dem Lindberg über die Silos für Gerste, Hopfen und Malz, die Hefezucht, das Sudwerk, die Kühlanlagen, die Fasswäscherei, die verschiedenen Lager, Küferei, Sattlerei, Schmiede und Schreinerei und auch die Logistik mit den Pferdefuhrwerken und ersten ‘Motorwagen’. Dokumentiert sind die verschiedenen Labors, das Direktionsbüro, aber auch die für die ‘Wohlfahrt’ des Personals wichtigen Anliegen vom Sanitätszimmer, hier ‘Geschäfts-Klinik’ genannt bis zu den Arbeiter-Châlets.
Eine erste Gruppe von Fotos zeigt Szenen aus den 1880er Jahren: Hier findet sich etwa ein Gruppenbild mit 80 Männern mit Zylinderhut und Biergläsern vor einem Wasserfall beim Brauertag 1878 in Wädenswil. Das wohl interessanteste Bild in dieser Serie zeigt eine Kolonne von Pferdefuhrwerken beim Eistransport vom Klöntalersee aus dem Winter 1877/78. Das ist eine Strecke von 80 Kilometern und dafür dürften die Fuhrwerke mindestens zwei Tage gebraucht haben. Kühlung war eines der Hauptprobleme beim Brauprozess, in Winterthur standen bereits anfangs des 20. Jahrhunderts industrielle Kühlanlagen.
Menschen fehlen fast ganz
Die Fotos sind ein grosser historischer Schatz für die Erforschung der Frühzeit des 20. Jahrhunderts weit über Winterthur hinaus. Einige Dinge fallen dem Betrachter sofort ins Auge: Selten sind auf den Bildern Menschen zu sehen. Das hat mit den langen Belichtungszeiten beim Fotografieren in jener Zeit zu tun, war aber auch ein Stilmittel der Linck-Dynastie. Frauen fehlen praktisch vollständig, Bierbrauen war offenbar Männersache. Pferde spielen eine grosse Rolle nicht nur als Zugpferde: Fritz Schoellhorn war auch ein begeisterter Reiter. Die Fotos zeigen auch die ersten Motorfahrzeuge bei Haldengut dazu gehört auch ein Personenwage als Geschäftsfahrzeug. Dokumentiert sind auch Unglücksfälle, auch ein Brand in einem Stall. Zu den wenigen Bildern mit Menschen gehört das Foto des betriebseigenen Schwimmbades aus dem Jahr 1912: Fritz Schoellhorn liess das Bad für die Belegschaft bauen und nutzte dafür die Abwärme aus dem Brauprozess.
Wikimedia Commons
Die Fotos sind bei Wikimedia Commons – das ist die Bilderdatenbank der Wikipedia-Welt – abgelegt und leicht zu finden. Sie dürfen unter Quellenangabe von allen genutzt werden. Immer mehr Archive und Bibliotheken nutzen Wikimedia um damit ihre Breitenwirkung zu erhöhen: Das Bundesarchiv beispielsweise hat bereits vor Jahren mehr als 5000 Fotografien aus der Zeit des Ersten Weltkriegs so zugänglich gemacht. Besonders aktiv ist auch das Bildarchiv der ETH Zürich, hier wird auf Anfrage jedes Bild auf Wikimedia Commons übertragen, wenn das Urheberrecht dies erlaubt: Das heisst der Urheber muss mindestens 70 Jahre tot sein. Wikimedia Commons ist auch für die Sammlung Winterthur ein Thema, bestätigt deren Leiter, Andres Betschart. Die Institution besitzt ihrerseits eine Sammlung von Fotos zur Geschichte der Brauerei: «Wir arbeiten bereits mit Wikipedia zusammen und führen regelmässig gemeinsam Workshops durch. Die ‘Politik’ in Sachen Wikimedia Commons ist Teil der Digitalstrategie, die noch nicht erarbeitet ist.»
Die Winterthurer Fotografendynastie Linck
Der Name Linck steht für eine ganze Dynastie von Fotografen aus Winterthur: Die Lincks haben 1864 bis 1949 in Winterthur und Zürich als Auftragsfotografen gearbeitet – für die Industrie aber auch für die Selbstdarstellung des gehobenen Bürgertums. Ihre Fotos prägen unsere Bild von der Industrialisierung in der Ostschweiz. Johann Linck (1831-1900), Sohn eines Salpetersieders kam 1864 nach Winterthur und begründete das Fotogeschäft der Familie, das über drei Generationen mit sechs Fotografen fortgeführt wurde. Die Dokumentation der Brauerei Haldengut wurde von seinem Sohn, Hermann Linck (1866 – 1938) gemacht. In Schweizer Archiven und Bibliotheken finden sich Hunderte, wenn nicht Tausende von Fotos der Familie Linck. «Die nüchterne klare Bildersprache und eine pedantische Sachlichkeit prägten diese Fotografien», schreibt Heinz Bächinger im Winterthurer Glossar. Grosse industrielle Objekte wie etwa Tanks oder Maschinen wurden wenn immer möglich komplett von ihrer Umgebung gelöst und vor einem weissen Hintergrund fotografiert, das erzeugte mitunter einen merkwürdigen Verfremdungseffekt.
Alle Bilder sind in der Auflösung von 5000 x 3500 auf Wikimedia Commons zu finden.
https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Haldengut
Mehr historische Fotos aus Winterthur:
Bilder vom Leben der polnischen Internierten im Hochschullager Winterthur 1940-1945
https://www.sternenjaeger.ch/bialy/
Literatur:
Irma Noseda: Die Fotografendynastie Linck in Winterthur und Zürich. Offizin Verlag/Fotomuseum Winterthur 1996.
Dieser Text erschien am 1.Oktober 2022 im Winterthurer ‚Landbote‘