Die Tücken des Bahnfahrens

Bahn statt Flugzeug – das ist das Gebot der Stunde. Aber so einfach ist es nicht. Meine Kolumne im Tössthaler vom 26.11.2022.

Bis vor fünf Jahren war das Reisen einfach. Egal ob nach Wien, Berlin, Budapest oder Madrid. Ein Blick ins Internet und den nächsten Flug buchen, das dauerte nur paar Minuten. Ausnahme übrigens schon damals: Paris. Mit Paris ging man mit dem TGV.

Heute ist Bahnfahren angesagt. Natürlich, das gilt auch für uns. Bahnreisen haben fast nur Vorteile: Man reist direkt ins Zentrum einer Stadt, sieht unterwegs etwas vom Land, hat Zeit zum Lesen und kann sich die Füsse auch mal vertreten. Abgesehen davon keine mühsamen und zeitraubenden Kontrollen vor dem Einsteigen. Wenn es denn unbedingt sein muss, könnte man sogar arbeiten.

So weit so gut. Allerdings will auch Bahnreisen gelernt sein, das haben wir in den letzten Jahren lernen müssen. Und es gibt eine Risikoliste – ganz oben auf der Liste ist Deutschland. Auch uns hat es erwischt, allerdings schon vor Jahren. Nach dem Umsteigen in Mannheim kam nur die halbe Komposition. Man muss flexibel sein aber mit unserem 80jährigen Schwiegervater war das nicht einfach – immerhin, hatten wir Glück: Unsere Reservation war im Zugteil der angekommen war.

Zurzeit liebäugeln wir mit einer Radtour durch die Kurische Nehrung. Mit dem direkten Zug nach Kiel und dann mit der Fähre weiter. Tönt gut. Aber was, wenn der Zug nach Kiel gestrichen wird? Tönt etwas riskant.

Die Risiken lauern aber noch ganz anderswo: Online eine Bahnreise buchen will gelernt sein. Ich hab’s im letzten Jahr geschafft bei einer Online Buchung für eine Reise nach Marseille gleich zwei Fehler zu machen. Billet zurückgeben? Fehlanzeige. Geht nicht bei diesen Zügen. Grund: Wir haben bei «Oui» gebucht. Ein idiotischer Name für eine Tochtergesellschaft der französischen Staatsbahnen SNCF, die billige Bahnreisen anbietet und eigenes Rollmaterial hat. Wieder was gelernt. Auch die billigen Züge zischen mit 300 Kilometer pro Stunde über eigenes Trassee durch die Landschaft. Zweite Lektion: Die Haltestelle mit dem poetischen Namen Lyon Saint-Exupéry ist der Flughafen von Lyon. Der TGV dahin hält aber nicht im Zentrum. Der Regionalzug ins Zentrum kostete gleichviel wie die Fahrt von Marseille nach Lyon-Flughafen. Pluspunkt: Die Architektur des Flughafens Lyon Sainte-Exupéry

Was ich dabei gelernt habe: Ich bin zu schusselig für das Online-Buchen von Bahnreisen. Der Weg übers Bahnreisezentrum der SBB lohnt sich. Denn hier hätte man mich über solche Feinheiten aufgeklärt. Nächstens geht’s nach Rom und eigentlich könnte man auch diese Reise online buchen. Ich hab’s gelassen und bin an den Schalter. Umsteigen in Mailand – laut Internet bleiben dafür 20 Minuten. Das sollte reichen. Nein meinte die SBB-Beraterin: Es braucht sicher eine Stunde. Sowas muss man wissen. Und noch etwas: Das Ticket Erster Klasse kostete praktisch gleichviel wie das Ticket Zweiter Klasse. Nun musste ich nur noch entscheiden, ob ich das Billet allenfalls zurückgeben könnte…

Sorgen gibt es, möchte man dazu sagen. Ich erinnere mich an meine erste Reise nach Rom – das war in den frühen 1980er Jahren. Ich glaube ich bin in Zürich in den Nachtzug eingestiegen und frühmorgens in Rom wieder ausgestiegen. Der Zug fuhr wohl ziemlich langsam, aber weil die Reisenden dabei schliefen, spielte das keine Rolle.

Reiseberichte aus früheren Zeiten faszinieren mich. Und weil wir öfter im Bündnerland sind, wissen wir auch um die Bedeutung der Alpenpässe. Die Via Mala bei Thusis hiess nicht ohne Grund so – die enge Schlucht war eine gefürchtete Passage. Interessant auch weiter oben im Ort Splügen: Reisende stiegen im Hotel Bodenhaus ab – darunter Königin Viktoria, die Prinzen von Hohenzollern und der russische Schriftsteller Leo Tolstoi.  Dem britische Maler William Turner gefiel es hier so gut, dass er 1841 und 1843 gleich mehrere Wochen blieb. Viele, die hier vorbei kamen waren unterwegs auf der Grand Tour. Das ist der Name für eine Bildungsreise durch Mittteleuropa, die seit dem 17.Jahrhundert Söhne des europäischen Adels und des gehobenen Bürgertums unternahmen. Was uns die Tourismus-Strategen heute als Grand Tour andrehen wollen, hat freilich nichts mehr damit zu tun.

Das Reisen ist längst nicht mehr den Söhnen des Adels und gehobenen Bürgertums vorbehalten – im 20.Jahrhundert wurden Reisen für alle erschwinglich und in den letzten Jahrzenten ist es ungebremst weitergegangen und heute haben wir mit einem neuen Phänomen zu tun: Overtourism. Davon sind nicht nur Städte wie Venedig und Florenz betroffen – auch die Schweiz kriegt das zu spüren. Die Badeplätze im Verzascatal, die Kapellbrücke von Luzern oder der Oeschinensee waren bis vor Corona zu gewissen Zeiten kaum mehr besuchbar. Zu viel Leute.

Für mich heisst die Frage heute nicht mehr: Bahn oder Flugzeug. Sondern: Wohin, wie lange und wie schnell. Warum nicht zu Fuss oder mit dem Fahrrad? Warum nicht fünf Tage, sondern zehn oder zwanzig. Fast hätte ich geschrieben: Warum dorthin wo alle sind? – Hier wird es kompliziert: Wenn alle Leute neue unbekannte Orte entdecken wollen, dann werden auch entlegenere Landstriche überschwemmt. Davon können zum Beispiel die Bewohner des Safientals ein Liedchen singen. Das scheinbar abgelegene Tal wurde monatelang von Besuchern überschwemmt. Sogar im November, wo es normalerweise still ist, kamen Gäste. Manchmal macht mich das etwas ratlos und ich denke: Am besten wäre es wohl, zuhause zu bleiben!

Dieser Beitrag erschien in der Rubrik „Standpunkt“ am 26.11.2022 im Tössthaler. Das Bild zeigt den italienischen Hochgeschwindigkeitszug Freccia Rossa (Der Rote Pfeil) in Mailand.