Auf dem Rücken des Walfischs

Die 700seitige Familiensage „Melnitz“ von Charles Lewinsky hat mich beim Schreiben der Kolumne „Mein Standpunkt“ im Tössthaler vom 1.April 2006 inspiriert.


?Hinschauen und Nachfragen? heisst ein neues Schulbuch, das in diesen Tagen erschienen ist. Es beschäftigt sich mit der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und speziell mit den Resultaten des Bergier – Berichtes. Die SVP hatte die Publikation dieses Buches schon während der Vorarbeiten kritisiert und bekämpft und äusssert sich auch jetzt entsprechend negativ. Das ist ganz gut so. Die heftige Reaktion gerade aus diesen Kreisen zeigt, dass das Thema offenbar auch heute noch kontrovers ist und solche Kontroversen gehören in die Schulstube. Mir persönlich sind solche Reaktionen lieber als gleichgültiges Schulterzucken. Keine Angst. Ich teile die Meinung der SVP nicht.
Ich werde mir bei Gelegenheit ein Exemplar des Buches besorgen. Es gehört in meiner Bibliothek neben die Biografie des St. Galler Polizeihauptmannes Paul Grüninger, der Hunderten, vielleicht Tausenden von Juden aus dem benachbarten Deutschland zur illegalen Einreise in die Schweiz verhalf. 1940 wurde er dafür vom Dienst suspendiert und verurteilt. Erst 1993 ? fast 50 Jahre nach Ende des Krieges! – hat ihn die St.Galler Regierung rehabilitiert. In St.Gallen, Stuttgart und Zürich gibt es Strassen, die nach ihm getauft wurden. In Wien sogar eine Schule!
Wo liegt die historische Wahrheit? ? In den Erinnerungen der Aktivdienstgeneration, in den Analysen der Historiker? ? Tatsache ist, dass jede Generation die Geschichte in der Auseinandersetzung wieder neu und anders beurteilt. Wer sich für Geschichte interessiert, muss sich auch für die Geschichten interessieren und manchmal sind Schriftsteller nicht nur gute Geschichtenerzähler sondern auch gute Geschichts-Vermittler.
Mit atemloser Spannung habe ich in diesen Tagen den Roman ?Melnitz? des Zürcher Schriftstellers Charles Lewinksy gelesen. Lewinksky erzählt die Geschichte einiger Familien aus dem aargauischen Lengnau ? dem einzigen Ort in der Schweiz, wo sich im 18. und 19.Jahrhundert Juden niederlassen durften. Erst 1874 erhielten die Schweizer Juden Niederlassungsfreiheit die vollen Bürgerrechte ? und genau in jener Zeit beginnt die Geschichte der Familie Meijer. Wir erleben ein Stück Schweizer Geschichte, die zwar erfunden, aber trotzdem wahr ist. Janki Meijer, ein entfernter Verwandter stürzt mit einem blutigen Verband am Kopf in die Stube und damit beginnt eine Geschichte über fast 800 Seiten und fünf Generationen. Sein Verband war eine Finte, um sein Geld sicher heim zu bringen. Zwei Weltkriege durchleben die Familien in diesem Buch. Der Holocaust, der Massenmord an den sechs Millionen europäischer Juden ist beklemmend präsent, als von der nach Deutschland ausgewanderten Familie von Ruben Kamionker plötzlich kein Lebenszeichen mehr kommt ? Telefonanrufe führen ins Leere. Eine unterbrochene Telefonleitung aus der sicheren Schweiz?. Keine Anklage. Nur eine beklemmende Schilderung.
Und immer, wenn es allen gut geht, meldet sich ein Gespenst. Der verstorbene Onkel Melnitz. Er ist ein Skeptiker. Hier habe ich gegen Schluss des Buches ein Bild gefunden, das kaum besser die Schweiz in jenen Tagen beschreibt:
„Das Erzählen machte ihn lebendig. Neue Geschichten hatte er mitgebracht, viele neue Geschichten, jede einzelne so tödlich lebendig, dass die alten dagegen verblassten. In der modernen Zeit wird alles größer und besser und effizienter. Sechs Millionen neue Geschichten, ein dickes Buch, aus dem man eine Generation lang würde vorlesen können, ohne sich ein einziges Mal zu wiederholen. Geschichten, die nicht zu glauben waren, schon gar nicht hier in der Schweiz, wo man all die Jahre auf einer Insel gelebt hatte, auf trockenem Boden mitten in der Überschwemmung. Geschichten, die nicht in die Köpfe wollten, nicht hier, wo die Vorräte nie ausgegangen waren. Man hatte zum Kochen sein Feuer angezündet und nicht gemerkt, dass man es auf dem Rücken eines Riesenfisches tat, der sich nur einmal im Wasser wälzen musste oder mit den Flossen schlagen, und schon war man erdrückt und erstickt und ertrunken. Man hatte es nicht gewusst, hier in der Schweiz. Man erfuhr es erst jetzt und hätte es lieber nie erfahren.“
Schweizer Geschichte aus der Sicht einer Minderheit, zu deren Geschichte die ständige Bedrohung gehört. Ein klein bisschen Angst ist immer da; zahlreich sind im Roman Melnitz die kleinen Geschichten, die den handelnden Figuren immer wieder zeigen, dass sie doch anders sind, nicht dazu gehören. Und damit verbunden die Angst: Es könnte wieder anders werden?. Die Sicherheit, die wir heute empfinden, könnte eine trügerische sein. Eine Idee, die mich nachdenklich werden lässt. Solidarität, Demokratie, Toleranz ? Werte, die uns selbstverständlich scheinen, sind es vielleicht doch nicht, müssen immer wieder neu erarbeitet, manchmal auch erkämpft werden.
Ein Gedanke hat sich beim Lesen dieses wunderbaren Buches bei mir festgesetzt: Es gibt in der Schweiz eine Tradition der Toleranz ? es gibt aber auch das Gegenteil davon. Es gibt eine Tradition der Grosszügigkeit ? und des Geizes. Das gilt in materiellen aber auch in religiösen Dingen. Das Glas ist entweder halb voll oder halb leer. Ich habe mit für die erste Variante entschieden: Unser Glas ist halb voll. Religiöse Toleranz und Respekt haben Tradition und diese müssen wir weiter pflegen und entwickeln.
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