Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil

Demenz, Alzheimer. Ein Leitmotiv für die heute 50jährigen. Fast jeder hat in seiner Familie einen oder eine Person, die davon betroffen ist. Es scheint als wäre es fast schwieriger damit umzugehen, als mit dem nahen Tod von Mutter, Vater und weiteren Familienangehörigen. Das mag auch den Erfolg von Arno Geigers Buch „Der alte König in seinem Exil“ erklären.


Es gibt in diesem Buch Sätze und Stellen, die muss man mehrmals lesen. So dicht, so gut, so wahr sind sie:
„Weil man als Kind seine Eltern für stark hält und glaubt, dass sie den Zumutungen des Lebens standhaft entgegentreten, sieht man ihnen die allmählich sichtbar werdenden Schwächen sehr viel schwerer nach als anderen Menschen“ (S.10).
„Da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelangen kann, muss ich hinüber zu ihm…“ (S.11)
„De Abende sind es, die einen Vorgeschmack auf das liefern, was bald schon der Morgen zu bieten haben wird. Denn wenn es dunkel wird, kommt die Angst. Da irrt der Vater rat- und rastslos umher wie ein alter König in seinem Exil. Dann ist alles, was er sieht, beängstigend, alles schwankend, instabil, davon bedroht, sich im nächsten Moment aufzulösen. Und nichts fühlt sich an wie zu Hause.“ (S.12)
„Alzheimer ist eine Krankheit, die, wie jeder bedeutende Gegenstand, auch Aussagen über anderes als nur über sich selbst macht. Menschliche Eigenschaften und gesellschaftliehe Befindlichkeiten spiegeln sich in dieser Krankheit wie in einem Vergrösserungsglas. Für uns alle ist die Welt verwirrend, und wenn man es nüchtern betrachtet, besteht der Unterschied zwischen einem Gesunden und einem Kranken vor allem im Ausmass der Fähigkeit, das Verwirrende an der Oberfläche zu kaschieren. Darunter tobt das Chaos.
Auch für einen einigermassen Gesunden ist die Ordnung im Kopf nur eine Fiktion des Verstandes.
Uns Gesunden öffnet die Alzheimerkrankheit die Augen dafür, wie komplex die Fähigkeiten sind, die es braucht. um den Alltag zu meistern. Gleichzeitig ist Alzheimer ein Sinnbild für den Zustand unserer Gesellschaft. Der Überblick ist verlorengegangen, das verfügbare Wissen nicht mehr überschaubar, pausenlose Neuerungen erzeugen Orientierungsprobleme und Zukunftsängste.
Von Alzheimer reden heisst, von der Krankheit des Jahrhunderts reden. Durch Zufall ist das Leben des Vaters symptomatisch für diese Entwicklung. Sein Leben begann in einer Zeit, in der es zahlreiche feste Pfeiler gab (Familie Religion, Machtstrukturen, Ideologien, Geschlechterrollen, Vaterland) und mündete in die Krankheit. als sich die westliche Gesellschaft bereits in einem Trümmerfeld solcher Stützen befand.“ (S.57/58)

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